Mit Columbus zum Niederrhein (2)

Geschichten von abenteuerlichen Mahlzeiten - Jugendlichen Lesern erzählt

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker

Mit Columbus zum Niederrhein (2)

Geschichten von abenteuerlichen Mahlzeiten

 

Ein Straßenjunge mit Stil (Zentralamerika)

Einen bemerkenswerten Jungen traf ich 2004 am anderen Ende der Welt, im zentralamerikanischen Nicaragua. Ich saß abends in der Hafenstadt Granada auf der Veranda eines Hotels, vor mir die Reste meines Abendessens. Es war ein hervorragendes Gericht gewesen. In den Schüsseln waren Reis, Salat und etwas Fisch übrig geblieben.

Da winkte mir von der Straße ein Junge, der vielleicht zwölf Jahre alt sein mochte. Er zeigte auf das Essen und machte eine fragende Geste, die ich sofort verstand. Er wollte die Essensreste. Ich gab ihm ein Zeichen, er sollte sich an meinen Tisch setzen. Das ließ er sich nicht zweimal sagen; schnell übersprang er die Absperrung und setzte sich. Er wollte nach meiner Gabel greifen, aber ich winkte dem Kellner, um ein frisches Besteck zu bestellen. Der verstand mich falsch und glaubte, er sollte den Betteljungen verjagen. Das wollte ich nun gerade nicht und er brachte, wenn auch mit säuerlicher Mine, Messer und Gabel. Der Junge legte sich eine Serviette auf den Schoß und begann zu essen. Er nahm zunächst den Salat, aß langsam, kaute gründlich und benutzte Messer und Gabel formvollendet. Er hatte sichtlich Hunger. Ich fragte ihn:
„Soll ich dir ein neues Essen bestellen?“
„Nein“, sagte er, „ich bin kein Bettler. Ich habe nur Hunger. Die Reste werden hier ja sonst weggeschmissen.“
„Warum hast du ausgerechnet vor diesem Restaurant gewartet?“, fragte ich ihn.
„Hier gibt es gutes Essen. Immer frische Sachen. Besser als da drüben!“ Er zeigte mit dem Messer zu einem großen Restaurant, das zu einer internationalen Kette gehörte. Dort tummelten sich mindestens zwanzig Kinder, um Reste zu ergattern. „Das Essen da ist nicht gesund! Viel zu fettig, schlechtes Fleisch, wenig Vitamine!“
„Woher weißt du solche Sachen?“, wollte ich wissen.
„Meine Großmutter sagt immer: Elbis, wenn du ißt, dann iß gesunde Sachen! Meine Abuela weiß so etwas. Satt sein, hat sie gesagt, ist gut; aber nicht alles!“
Wieder einmal überraschte mich dieses Land, in dem die Bauern z.B. nicht einfach sagen: Das ist ein Baum, das eine Blume! Sie kennen immer genau den Namen. Und wissen auch sonst eine Menge.
„Du heißt also Elbis?“, fragte ich den Jungen, der sich inzwischen eifrig über Reis und Fisch hermachte.
„Ja, nach dem großen Sänger Elvis Presley! Meine Mama hat ihn sehr verehrt.“
„Soll ich dir noch einen Nachtisch bestellen, Elbis?“
„Ich hab doch gesagt, ich bin kein Bettler.“
„Ich bestelle mir auch einen Nachtisch. Frisches Obst! Ich lade dich nicht als Bettler ein, sondern als Freund! Einverstanden?“
„Einverstanden, Senõr!“
„Hast du bei diesem Essen nicht gallo pinto vermißt?“, fragte ich amüsiert, denn fast jeder Nicaraguaner ißt morgens, mittags und abends dieses Gemisch aus Reis und Bohnen.
„Ich esse es nur, wenn Sahne drauf ist und etwas Rührei oder Fleisch. Sonst ist es nicht gesund für den Menschen. Hat meine Großmutter gesagt.“
„Sie ist eine kluge Frau“, bestätigte ich, denn Reis und Bohnen allein sind  tatsächlich keine ausreichende Nahrung.
„Sie weiß alles!“, bestätigte er stolz und strich sich die schwarzen Haare aus dem Indiogesicht.
Wir ließen uns gemeinsam den Nachtisch schmecken. Dann stand er auf, reichte mir die Hand, bedankte sich für den Nachtisch – und war schnell in der Menschenmenge des Platzes verschwunden.


Es gehört schließlich allen! (Osmanisches Reich)

Wieder ein paar Tausend Kilometer entfernt, in Istanbul, besuchte ich mit meinem Freund Ali und seiner Mutter Leyla ein Restaurant. Es war ein äußerlich gesehen einfaches Gasthaus, aber die Speisekarte bot mehr, als man auf den ersten Blick erkennen konnte. Ohne meine türkischen Freunde hätte ich nicht begriffen, welche Köstlichkeiten sich hinter den fremden Bezeichnungen verbargen. Ich ließ mir die verschiedenen Gerichte erklären und war überwältigt von der Vielfalt. Als unser Essen aufgetragen wurde – getrennt in kleinen Schüsseln und Näpfen -, war ich begeistert. Vom Anblick, vom Geruch, vom Geschmack.
„Wie kommt es, daß die türkische Küche soviel raffinierte und großartige Gerichte hat?“, fragte ich meine Freunde.
Ali, der sich über mein Interesse sichtbar freute, hielt mir regelrecht einen kulturgeschichtlichen Vortrag:
„Unser Land hieß nicht immer Türkei, es war bis zum Ende des Ersten Weltkrieges das Osmanische Reich. An der Spitze standen über Jahrhunderte die Sultane. Sie hatten einen großen Hofstaat. Der bestand nicht nur aus Haremsdamen, sondern auch die Großwesire, Wesire und Minister gingen ständig ein und aus. Die Sultane liebten den Genuß, schöne Gärten und Schlösser, Landschaften, Teiche und Seen. Und schöne Frauen natürlich. Aber mehr als alles andere war ihnen gutes Essen wichtig. Weil das osmanische Reich über viele Länder herrschte, befahl der Sultan, daß man die Rezepte aller Gerichte, die in der Fremde üblich waren, in Istanbul sammeln sollte. Seine Köche kochten sie nach, verfeinerten sie und probierten. Erst wenn der Chefkoch zufrieden war mit Aussehen, Geschmack und Geruch, bot er es dem Sultan an. Nur ihm! Denn er wollte immer und überall der Erste sein. Dann nahmen seine wichtigsten Hofbeamten und ausländische Gesandten an den Essen teil, dann die Minister und Generäle – und schließlich wurden die Rezepte für das ganze Reich der Osmanen freigegeben.
Weil jeder essen wollte, was der Sultan für gut befunden hatte, verbreiteten sich die Rezepte sehr schnell – und so hat sich die reiche türkische Küche entwickelt. Sie ist aus vielen Kulturen entstanden, aber heute gehört sie uns – und wir geben sie weiter.“
Ich dachte daran, wie schnell sich seit den 70er Jahren in Deutschland, Österreich und der Schweiz türkische Restaurants durchsetzten – und daß türkisches Essen nicht nur, wie manche glauben, aus Türkenpizza besteht. Glücklicherweise!


Der dicke König (Ägypten)

Der letzte König von Ägypten, Faruk I. (1920 – 1965), entstammte auch einer osmanischen Herrscherdynastie. Wie seine Vorfahren liebte er das Essen über alles. Aber irgendetwas muß er mißverstanden haben: Der kleine Mann aß nicht nur zu viel, er trank, so ist überliefert, täglich mindestens 36 Flaschen Pepsi-Cola. Von dieser Firma besaß er Anteile, vermutlich wurde er gratis beliefert. 1952 vertrieben ihn die Ägypter und er lebte fortan  in Rom im Exil. Auch in Rom trank er weiter seine geliebte Pepsi. Er wurde so dick, daß er sich zum Lebensende hin nur noch mit Hilfe seiner Diener von seinem Hotelzimmer zum Restaurant bewegen konnte. Er starb denn auch an einer reich gefüllten Tafel.


Ein Buch mit diesen Texten wird im August 2008 als Gemeinschaftsproduktion mit „Brot für die Welt“ im Sauerländer-Verlag (Patmos) Düsseldorf erscheinen.
Lesen Sie hier morgen den dritten Teil

© Hermann Schulz – Vorveröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung des Autors

Weitere Informationen unter: www.patmos.de