Fußball-Dramatik

Kurt Palm - „Die Hitzeschlacht von Lausanne“

von Frank Becker

High Noon im Pontaise

Bis vor einigen Jahren hatte es jahrzehntelang für mich nur ein einziges gültiges Fußballbuch gegeben: das war das von anonymer Feder verfaßte schmale Bändchen „Das Spiel ihres Lebens“, das 1954 in der Reihe Göttinger Jugend-Bände des W. Fischer Verlages über das dramatische Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 zwischen Deutschland und Ungarn erschienen war. Es ist ein Teil der Erinnerung meiner Kindheit an das „Wunder von Bern“ geworden, das ich als ganz kleiner Steppke am 36-cm-Bildschirm Marke Loewe-Opta des ersten Fernsehapparates unserer Familiengeschichte miterleben durfte. Nie werde ich den Jubel der aus der ganzen Straße (in der Halbzeitpause sogar auch aus weiter entfernten Vierteln der Stadt - es hatte sich nämlich herumgesprochen, daß in der Haydnstr. 5 ein Fernsehapparat stand) ins Wohnzimmer der elterlichen Wohnung geströmten wildfremden Männer vergessen, die sich beim 3:2 für Deutschland und nach dem Schlußpfiff weinend und schreiend in den Armen lagen, sich vor Freude beinahe gegenseitig erschlugen. Bei der Erinnerung kommt auch nach 60 Jahren die Gänsehaut wieder. Und nie werde ich den Anblick der geschlagenen Ungarn vergessen, wie sie mit hängenden Köpfen die Arena in Bern verließen. Ich muß damals noch herzlich wenig von Patriotismus gewußt haben, denn ich erinnere mich auch noch (heute), nun schmunzelnd daran, daß ich weinend zu meiner Mutter in die Küche kam und nach dem Grund meines Kummers gefragt schluchzend antwortete: „Die armen Ungarn, die tun mir so leid...“

Doch seit 2008 liegt ein Buch vor, das sich 54 Jahre nach der Fußball-WM in der Schweiz neben „Das Spiel ihres Lebens“ einen gleichberechtigten Platz in meinem Bücherschrank und meinem Herzen erobert hat: Kurt Palms grandioses Fußballbuch „Die Hitzeschlacht von Lausanne“. Palm erzählt hier die Geschichte des Spiels, in dem sich im Viertelfinale während der nämlichen Weltmeisterschaft beim Kampf um den Einzug ins Halbfinale die Nationalmannschaften der Schweiz und Österreichs im Stadion Pontaise in Lausanne bei 40 Grad Hitze und 81% Luftfeuchtigkeit gegenüberstanden. Parallelen zu Brasilien heute sind da nicht abwegig. 50.000 Zuschauer verfolgten das Spiel im Stadion. Zwölf Tore fielen, alleine acht davon in den ersten 34 Minuten! Die Österreicher holten, einen Tag nach dem Ausscheidungsspiel gegen Italien noch konditionell angegriffen, einen Rückstand von 0:3 auf, legten nach und lagen in der 34. Minute mit 5:3 vorn. Eine Sensation. Doch die Schweizer holten ihrerseits auf, schafften noch in der ersten Hälfte den Anschlußtreffer. Österreichs Außenstürmer Körner verschoß einen Elfmeter, ein Abseitstor der Österreicher wurde vom schottischen Schiedsrichter Faultless (der wohl doch nicht fehlerlos war) nicht als solches erkannt - ein Schock für die Schweizer, in einem Spiel, das an Spannung wohl kaum zu überbieten war. Der Halblinke Probst kugelte sich in der 80. Minute eine Schulter aus. Österreichs Torwart Schmied erlitt einen Hitzschlag und konnte sich später an den Sieg seiner Mannschaft nicht mehr erinnern - was für eine Dramatik!

Kurt Palm (*1955) hat das Spiel natürlich nicht gesehen, doch brillant recherchiert und es mitreißend beschrieben. Es bildet den Kern seines sportgeschichtlich weit darüber hinaus wichtigen, zudem unterhaltsamen und umfassenden Bandes über die von Legenden begleitete Fußball-Weltmeisterschaft 1954. Auch das Vorher und das Nachher ist ausführlich eingeflossen, so das Scheitern der Österreicher gegen Deutschland im Halbfinale (1:6) und der Sieg gegen den amtierenden Weltmeister Uruguay im Spiel um Platz 3 mit 3:1. Tabellen, Dokumente, Marginalien und viele Fotos machen das herrliche Buch zu einer unerschöpflichen Fußball-Fundgrube.
Am Dienstag unterlag
in der Vorrunde der Fußball-WM 2014 Italien gegen Uruguay  in einem nervenaufreibenden Spiel bei unglaublich brutalen italienischen Fouls mit 0:1, und Deutschland schaffte gestern in einem unrühmlichen Spiel die USA unter deren deutschem Trainer Jürgen Klinsmann gerade mal ein beschämendes 1:0. Die Klasse der Herberger-Elf von Bern werden außer Kämpfern wie z.B. Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Miroslav Klose, Lukas Podolski, Mario Götze und Thomas Müller diese deutschen Spieler, von denen z.B. Mesut Özil und Jérome Boateng nicht einmal die Hymne mitsingen, wohl nicht erreichen.

Kein Buch würde sich besser zur begleitenden Lektüre einer jeden Fußball-WM eignen als Kurt Palms „Die Hitzeschlacht von Lausanne“. Von uns mit dem Musenkuß ausgezeichnet.

 
Kurt Palm – „Die Hitzeschlacht von Lausanne“
Das WM-Spiel Österreich-Schweiz 1954

© 2008 Residenz Verlag, 175 Seiten, Klappenbroschur, mit vielen s/w-Fotos, Dokumenten und Tabellen - ISBN
17,90 €

Weitere Informationen unter:  www.residenzverlag.at
 
 
„Das Spiel ihres Lebens“ 
(nicht im Quellenverzeichnis bei Kurt Palm, in einigen Exemplaren noch preiswert im Antiquariat zu finden)