1000 Nadelstiche - Amerikaner und Briten singen deutsch

Ein Buch von Bernd Matheja und eine CD-Edition bei Bear Family Records

von Frank Becker

© 2000/2007 Bear Family

1000 Nadelstiche

Eine Bear Family Buch- und CD-Edition
stellt vor:
Amerikaner und Briten singen deutsch

Als der Publizist und Musikjournalist Bernd Matheja im Jahr 2000 sein mittlerweile zum Standardwerk des Genres gewordenes Buch "1000 Nadelstiche - Amerikaner & Briten singen deutsch 1955-1975" beim Oldie-Spezialisten Bear Family veröffentlichte, schloß er damit nachhaltig eine Lücke in der Aufarbeitung deutscher Pop-Geschichte. Bereits in dritter Auflage beherrscht der umfängliche, reich bebilderte und sachkundig recherchierte Band das Thema der in deutscher Spreche holpernden und radebrechenden Pop-Stars aus England und den USA in allen Facetten. Weil der Klappentext des prächtigen Buches eigentlich nicht zu übertreffen ist, erlaube ich mir hier (was ich höchst selten tue) ausnahmsweise einmal, ihn im O-Ton wortgetreu wiederzugeben:

"Sie quälten sich mit prähistorischen Papp-Promptern herum oder streckten, weil sie die Faxen ganz einfach dicke hatten - auch mal die Zunge raus: Weltstars wie Connie Francis und Johnny Cash (siehe Titelseite) waren unter den unzähligen anglo-amerikanischen Interpreten, denen ihre jeweiligen Plattenfirmen seit den Fünfziger Jahren Besonderes angedeihen ließen: Liedtexte in deutscher Sprache - und selbige auch noch tunlichst schön singen...
Das Resultat klang in hiesigen Käuferohren dann entweder schlicht rührend, oder aber man konnte sich so herrlich über das Geholper aufregen. Wie auch immer, den Verantwortlichen kam´s nicht ungelegen, denn die Künstler waren auf diese Weise entweder im Gespräch oder zumindest im Gerede.
Dabei gehörten Connie und Johnny noch zu den wenigen (Sänger(inne)n, die mit dem Verlangten kaum Probleme hatten. Francis zum Beispiel haute Single auf Single raus, mittels solcher Massenproduktion regulierte sich die anfängliche Silbenklempnerei schnell von selbst - neudeutsch: lörning bei duing.
Country-Koryphäe Cash dagegen gehörte - wie auch sein Landsmann Elvis Presley - zu denjenigen, die deutsche Rest-Artikulation hatten konservieren können: JC, ganz Profi, reaktivierte eingelagerte Wortbrocken aus seiner Zeit bei der US Army in Landsberg am Lech.
Das Gros der Opfer jedoch, meist zum ersten Mal im Leben mit "ä", "ö" und "ü" konfrontiert, kämpfte mit den für sie schweißtreibenden Dichtungen; also muhten sie sich klaglich mit dem Umlaut und lieferten oft Endprodukte ab, als wäre ein Quirl in einen Eimer Buchstabensuppe gefallen. Denn wer konnte einem Ex-Cowboy aus Colorado oder einer gelernten Telefonistin aus Littlehampton schon überzeugend begreiflich machen, daß nach ihren erfolgreichen Umschulungen zu Sangeskünstlern nun gefälligst auch noch die Sache mit dem "ch" alternativ als Zungen- oder Rachenlaut zu klappen hätte. Natürlich von jetzt auf gleich...
In solchen Härtefällen versagte meist auch die phonetische Seelsorge, die eigens in Marsch gesetzte Produzenten und Sprachlehrer in den Studios leisteten. Um die Gepeinigten aber nicht vollends zu entnerven, und die Aufnahmekosten in vertretbaren Grenzen zu halten, einigte man sich gern nach der Formel "paßt, wackelt und hat Luft".
Heraus kam dabei, so 1964 im Fall der Searchers, eine Eröffnungszeile wie: "Ick sasi heut nackt...". Und schon - skandalöse Sauerei! - ging der Ärger um ihre eigentlich harmlosen "Tausn Naddelschtischa" richtig los..."


Mit Vergnügen aufgearbeitet

Bernd Matheja hat - und das merkt man seinem liebevoll erarbeiteten und aus persönlichem
Hörerlebnis gespeisten Buch an - mit sichtlichem Vergnügen in diesem Kapitel deutscher Schlager- Geschichte nicht nur herumgestochert, sondern es in der Tat akribisch aufgearbeitet.
Der Leser hat die Wahl (und das gerade macht den Spaß aus): von Seite 1-352 durchlesen, zunächst den Index nach Interpret oder Titel befragen und gezielt suchen oder ganz einfach irgendwo aufklappen und sofort gefangen sein. Der Reiz des soweit möglich überwiegend farbig bebilderten Bandes ist, daß man sich sofort und an jeder Stelle gleich zu Hause findet - sofern man die behandelte Zeit von 1955-1975 als Schlagerparaden-Hörer oder Fan mitgemacht hat. Was Matheja an Fotos, Plattencovern, Filmprogrammhefte, Labels, Schlagertext-Heften und Dokumenten aufgetrieben und perfekt zusammengestellt hat, ist atemberaubend.

Schöner fremder Mann

Na klar, Sie ahnen es schon, ich war auch dabei, habe die zungenbrecherischen Anstrengungen der Amis und Briten mit gemischten Gefühlen verfolgt - und bin doch lieber bei ihren heimatsprachlichen Original geblieben. Die Flut aber war nicht aufzuhalten, denn so, wie jeder nur einigermaßen erfolgreiche Sportler in dieser Zeit vor die Studio-Mikrophone gezerrt wurde um ein Liedchen zu trällern, wurden die Stars aus England und den USA - Matheja beschreibt das köstlich - genötigt zu tun, was sie nie wollten: deutsch singen. Die Ergebnisse sprechen, pardon: singen zwar oft genug negativ für sich, aber es wurde mit wechselndem Erfolg immer wieder getan. Connie Francis z.B. war so ein positiver Sonderfall und uns doch nur oder überwiegend von ihren deutschen Singles bekannt, "Die Liebe ist ein seltsames Spiel", "Schöner fremder Mann" oder "Paradiso" waren Ohrwürmer, die wir mit schmerzendem Herzen und abgrundtiefem Liebeskummer eins ums andere Mal spielten. Die erste deutsche Beatles-Single "Sie liebt mich(!)" schenkten uns nichtsahnend erwachsene Verwandte, weil sie dachten, damit etwas für die deutsche Schlagerkultur zu tun- wir aber wollten das "Yeah, yeah, yeah" auf englisch.

Von Ames Brothers bis Frank Zappa

Schaut man sich die ungeheure Namensliste am Ende des Buches an, dann steht man verblüfft vor Namen, von deren deutschen Gehversuchen man noch nie gehört hat. Bernd Matheja allerdings hat - und belegt es mit sachkundigen Texten, kurzen Biographien und hervorragendem Bildmaterial.
Kapitel über Texter, Pseudonyme, englisch klingende Namen, hinter denen keine echten Amis oder Briten steckten, kleine Kostbarkeiten, Hits und Fehlschlägen sowie über die Anfänge des von
Ausländern angestimmten deutschen Schlagergesangs stehen unterhaltsam vor dem eigentlichen Kern, von A wie Ames Brothers bis Z wie Frank Zappa (mit u.a. Chubby Checker, Dana, Spencer Davis,
Joey Dee, Everly Brothers, Lesley Gore, Rolf Harris, Vickie Henderson, Wanda Jackson, Brenda Lee, Merseybeats, Willie Nelson, Dean Reed, Neil Sedaka, Helen Shapiro, Steppenwolf, April Stevens, Bobby Vinton, Andy Williams) penibel alphabetisch geordnet. Den sechs Jahren ab 1970 widmet Matheja einen eigenen Abschnitt. Ungeklärt blieb nur weniges, doch auch darüber gibt es ein Kapitelchen. Instrumentalisten von Herb Alpert bis Larence Welk, genrefremde Künstler von Josephine Baker bis Lawrence Winters und "Zugereiste und Eingemeindete" von Gus Backus bis Mal Sondock. Kuriositäten füllen schließlich diesen unterhaltsam-informativen Kessel Buntes auf.

CD-Edition

Parallel erschien und erscheint eine bis heute fortgeführte CD-Edition bei Bar Family Records, die bis jetzt einen Umfang von immerhin 12 Alben mit je ca. 25 Titeln und sehr umfang- und detailreichen Booklets aufweist. Alle Titel finden Sie auf der Heimseite von Bear Family Records (unten). Dabei förderten die Herausgeber manch ein Bonbon und etliche unveröffentlicht gebliebene Titel zu Tage. Zuletzt kam Nr. 11 ("Beat & Pop") mit u.a. Freddie Starr, den 5 Liverpools, Isabella Bond, Peter & Gordon, Bobby Goldsboro, Barry Ryan, John O´Hara And His Playboys und Nr. 12 ("Folk & Pop") mit u.a. Don Paulin, Springfields (inkl. Dusty), Peter, Paul & Mary, Don Hill, Caravelles und den New Christie Minstrels heraus.
Das Buch: Bernd Matheja, "1000 Nadelstiche", 2000/2007³ Bear Family Records, 352 Seiten gebunden
mit Fadenheftung, mit farbig illustriertem Schutzumschlag und zahllosen farbigen und einigen s/w-Illustrationen, 39,80 €

Ein wunderbarer literarischer, optischer und akustischer Ausflug in die deutsche Schlagergeschichte!

Weitere Informationen unter: www.bear-family.de