Schicksale

Eine Trilogie - Teil 2

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker

Schicksale
II.


Gestern war der Computer dienstunfähig. Der Drucker schwieg, der Scanner drohte mit irgendwas, der PC erstarrte. Ich rief meinen Nothelfer an, er wollte am nächsten Morgen kommen, heute habe er schon Kunden zu bedienen.

Ich nahm dies als Chance zu einem Ausbruch aus der Routine. Morgens um Elf fuhr ich an einem Altersheim nicht unweit der Stadtmitte vor. Es war ein kühler, feuchter, grauer Morgen, der Menschen von den Straßen und Plätzen hier vertrieben hatte. Nur ihre Autos warteten geduldig, eines hinter dem anderen, am Straßenrand. Alles gehörte in diesem Augenblicken mir, die alten Häuser aus roten, feuchten Ziegeln, die von Kaiser Wilhelm und von Pickelhauben sprachen, von geschnörkelter Schrift auf Goldgrund und von den Korsagen der Gnädigsten.

Und da war ich schon im Innenhof, belehrt, welches Zimmer es sei. Es war anderthalb Jahre her, daß ich dieses Ehepaar, bei dem ich jetzt anklopfte, besucht hatte. Beide Ende Siebzig, sie auch damals schon fast stumm. Sie hatte ihm aber  schon immer das Reden überlassen, und  jetzt litten beide an Parkinson, eine leisen, heimtückischen Form davon, die sie langsam zu lähmen schien.

Als ich öffnete, sah ich nur Wolfgang im Bett liegen. Ein Arm war verkrümmt und unter dem Pullover versteckt, aber auch die andere Hand war verkrampft. Wolfgang bewegte sich nicht, sprach sehr leise. Ich solle seine Frau herein holen, sie sitze draußen am Fenster des Balkons. Selbst diese wenigen Worte waren schwer zu verstehen. Ich fand sie in einer Gruppe von anderen alten Verstummten, sie blickte kurz auf, ließ sich aber geduldig im Rollstuhl ins gemeinsamer Zimmer zu ihrem Manne schieben. Da saß sie neben seinem Bett, aber beide sagten kein Wort.

Manchmal murmelte Wolfgang etwas, was ich meistens nicht verstand, ich hörte jedoch aufmerksam zu. Ich fand, daß ich nichts anderes tun konnte als ruhig bei den beiden zu sitzen.

Mir fiel ein Krankenhaus-Aufenthalt vor Jahren ein. Ich lag im Krankenbett, die Untersuchungen hatten mehrere Tage gedauert. Dann traten nach einander der Chefarzt und zwei Assistenzärzte ein, alle mit freundlichen, sonnigen Gesichtern. Die Untersuchungen hätten keinerlei pathologischen Befund ergeben, es sei sozusagen alles in bester Ordnung. Alle blickten sich freudig an, ich wahrscheinlich am freudigsten.

So etwas wird hier nie mehr passieren. Drei Weißkittel, die das Überleben verkünden, ob das bei dieser Krankheit je möglich sein wird?

Spätsommer-Licht floß durchs Fenster, der Himmel hatte sich aufgehellt. Und unmerklich strömte mit dem Licht stille Hoffnungslosigkeit herein, die Gedanken und Gegenstände mit scharfen Konturen versah. Aber In meinem  Inneren schien sich die Hoffnungslosigkeit allmählich in Hoffnung zu verwandeln, eine Hoffnung, die nur aus Licht bestand, das sich mit der Nachmittags-Sonne vermischte. Ich wußte, es ist eine Hoffnung ohne Inhalte; Inhalte sind immer von Menschen gemacht, sie begleiten uns nur bis zur Wegebiegung.

Ob die beiden dies auch so spüren? dachte ich. Ich hielt es für möglich.

Ich gehe jetzt, Wolfgang, sagte ich. Wir sehen uns bald.

Er hat gesagt, daß er gut versteht, was ich sage, dachte ich, als ich durch die schweigsamen Gänge marschierte. Wir müssen nachher überlegen, ob man ihm vorlesen könnte.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008