Das Vernichten der Dokumente

Eine Schnurre

von Eugen Egner

© Eugen Egner

Das Vernichten der Dokumente


An einem Nachmittag im Spätherbst sind zwei Maler, Gustav und Fraunstätter, auf dem Weg zu einer Freun­din, in deren kleinem Ofen sie Dokumente verbrennen wollen. Unterwegs sprechen sie natürlich über die Kunst. Fraunstätter, der jüngere, klagt dem Kollegen sein Leid:
  »Ach Gustav, es ist ja so schwer mit der Kunst. Wie soll unsereins noch einen originellen Beitrag zur Kunsthisto­rie beisteuern, wo es doch so gut wie alles schon gibt! Ich habe lange hin und her überlegt, aber letztlich alles ver­worfen. «

Gustav bleibt stehen. Er hält Fraunstätter wortlos ein Fläschchen hin, das jener gern nimmt und leertrinkt. Sie gehen weiter. Im Nebel des Nervengiftes läßt sich Fraun­stätter dann weiter aus. Er spricht von seiner Erkenntnis, daß alles Quatsch sei, womit er sich so angestrengt beschäftige. Gustav spitzt die Lippen und wackelt mit dem Kopf. Auch er hat Probleme, zum Beispiel legt seine Frau überall in der Wohnung Süßigkeiten aus, denen er nicht widerstehen kann. Fraunstätters Stimme hat zu zittern begonnen:
  »Seit Knabentagen gelüstete es mich kürzlich erstmals wieder, Laubsägearbeiten auszuführen. Möglicherweise hätte ich damit noch eine Nische füllen können. Doch wehe, wehe, mein einziges Sägeblatt riß gleich beim ersten Streich.«
Weil er nicht weiß, was er dazu sagen soll, schweigt Gustav. Als Jugendlicher hat er ein Gotteserlebnis im Harz gehabt. Er denkt an seine eigene künstlerische Ent­wicklung, während Fraunstätter weitergreint. Seit seiner letzten Radierung, auf der ein Mann zu sehen ist, wel­cher den Griff einer Teigrolle (Nudelholz) in den Mund gesteckt hat, ist er selbst neugierig, wie es weitergehen wird. Einzig die Süßigkeiten bereiten ihm Sorge. Indes­sen lamentiert Fraunstätter:
  »Ja, was habe ich nicht alles in Angriff genommen: mißratene Kinder in Acryl, alte Damen in Bleistift, hu­morige Federzeichnungen von Königen, des Nachts sogar abstrakte Hähne und Gliederpuppen - alles Mist, alles von anderen schon längst viel besser gemacht! Während der letzten Tage habe ich mit kalten, aber feuchten Füßen das Bett gehütet, so hat mir der Kopf geschwirrt. Es ist ein Kreuz mit der Kunst. «
Nachdem Fraunstätter also gesprochen hat, erwidert Gustav:
  »Ach, was weißt denn du von Kunst!«
Fraunstätter sagt nichts mehr, sondern beißt sich auf die Unterlippe.
Schweigend überqueren die Maler einen Platz mit etwas undeutlichen Gebäuden, vor denen einige Kinder­-Tretroller herumliegen. Gleich um die Ecke wohnt die Freundin, deren kleiner Ofen, wie wir uns erinnern, das Ziel der Künstler ist.
Die vielen Kinderwagen, Fahrräder, Zementsäcke, Schränke und Bierkästen im Treppenhaus lassen es er­staunlich wirken, daß auch noch die Treppe Platz findet. Neben den Briefkästen steht in forscher Kreideschrift an der Wand: »Ich bin gegen Wäsche im Briefkasten!« Auf jeder Etage türmen sich Briefe und Postwurfsendungen. Die Freundin wohnt ganz oben, wohin nur ganz Ent­schlossene gelangen. Die Wohnungstür ist ausgehängt, und die Besitzerin des kleinen Ofens arbeitet in ihrer Küche an etwas, das aussieht wie eine ausgestopfte Kuh: ihr Alterswerk.
Nach der förmlichen Begrüßung inclusive Umarmung sagt Gustav:
  »Wir sind gekommen, um Dokumente zu vernichten. Brennt das Feuer in deinem kleinen Ofen?«
  »Es brennt«, antwortet die Frau, woraufhin Gustav seinen Kollegen auffordert, ihm zum Ofen zu folgen. Während sie aber die Dokumente vor dem Verbrennen sortieren, geraten sie in Streit um den rechten Glauben, und Fraunstätter will den kleinen Ofen aus dem Fenster werfen. Von nebenan fragt die Freundin:
  »Vernichtet ihr auch schön die Dokumente?« Fraunstätter und Gustav wälzen sich in Form eines haß­erfüllten Knäuels kreischend am Fußboden.
  »Kommt bitte her!« ruft die Freundin.
Und als die beiden mit zerrauften Frisuren vor ihr ste­hen, droht sie ihnen: »Wenn ihr euch nicht vertragen könnt, dürft ihr keine Dokumente mehr in meinem kleinen Ofen verbrennen.«
  »Dann wollen wir auch nicht mehr leben«, rufen die Maler wie aus einem Munde.
Dies geht der gestrengen Freundin aber zu Herzen! Auf der Stelle bereut sie ihre harten Worte.
  »Vergebt mir!« ruft sie, die Maler an ihre Brust drüc­kend.

Und dann sitzen sie alle drei vor dem kleinen Ofen. Mit dem Widerschein der Glut auf ihren Gesichtern stecken sie lachend die Dokumente Blatt für Blatt ins Feuer.



© Eugen Egner