Ein guter Tag

Ein Feuilleton

von Andreas Steffens
Ein guter Tag

Obwohl er es, müde wie er noch war, eigentlich gar nicht mochte, zwang er sich, von der Sucht nach draußen getrieben, doch schon bald dazu, schnell zu gehen. Sonst wäre es wohl kaum auszuhalten. Der Weg war lang genug, daß er die von unten an ihm hoch kriechende nasse Kälte würde weglaufen können, gelänge es ihm nur, den erforderlichen Rhythmus zu finden und ihn durchzuhalten.

Zigaretten oder Zigarillos? Von beidem rauchte er in der letzten Zeit wieder entschieden zu viel. Da sie sich nicht so undiszipliniert einfach wegpaffen ließen, sondern in ihrer Aromaschwere zu einem Minimum des Genusses zwangen, zu dem sie doch gedacht waren, sollten es heute Zigarillos sein. Ihre Schwere würde ihn, so hoffte er, schließlich auch dazu zwingen, nicht mehr so viel zu rauchen.

Er hatte seinen Rhythmus gefunden und fühlte, wie die Kälte durch die Bewegungserwärmung seines Körpers ihm immer weniger zusetzte. Bald würde er sie gar nicht mehr spüren. Die Verkrampfung seiner Hände, die er tief in den Taschen seines Mantels vergraben hatte, löste sich allmählich und sie schmiegten sich nur noch wie ausruhend nach einem lockeren Halt suchend an den Innenstoff, die Wärme genießend, die sie selbst ihm mitgeteilt hatten.

Auch verkroch er sich schon nicht mehr in seinem Körper. Die leichte Buckelhaltung war seinem normalen Aufrechtgang wieder gewichen. Er begann, sein Gehen zu genießen, den unvermindert raschen Schritten fehlte die Übereilung, die ihn zuerst getrieben hatte. Seine Aufmerksamkeit löste sich aus der sie auf sie fixierenden Umklammerung der Kälte. Nun könnte er beobachten.

Aber der ohnehin nie sehr belebte Weg abseits der Hauptstrecke, die er für seine Gänge in die Innenstadt bevorzugte, war um diese Zeit fast ganz menschenleer, und auch der fast zur Größe eines kleinen Parks erweiterte Spielplatz in unmittelbarer Nähe des als Einwandererheim genutzten neuen Sozialbaukomplexes, der sonst fast zu jeder Zeit von Gruppen gelangweilt geschäftiger Jugendlicher belagert war, zeigte sich verwaist.

Der eisige Ostwind, der ihm immer schärfer ins Gesicht fuhr, ärgerte ihn zu seiner Überraschung nicht, auch wenn er an den Ohren doch empfindlich schmerzte.

Nein, heute war sie nicht im Laden, wie er mit einem raschen Blick beim Überqueren der Straße durch die große Scheibe feststellen konnte, die überschlankzarte Polin, die ihn immer mit großen dunkelbraunen Augen wie erschrocken und doch mit einem Glänzen schalkhafter Frechheit freundlich anschaute, wenn er sich auf einem Rückweg in dieser kleinen Bäckerei, die zu den von ihren ehemaligen kleinbürgerlichen deutschen Besitzern, ermüdet von einem zu lange zu schleppenden, schließlich fast ganz ersterbenden Geschäftsgang, ganz aufgegeben oder an einige wenige geschäftsfreudige Einwandererfamilien, Türken, Griechen, Polen, weitergegebenen Geschäften gehörte, mit etwas Brot oder einem Stück Kuchen für den Tagesrest versorgte. Gleich nachher also kein Stop. Ohnehin hatte es ihn schon leicht zu verstimmen begonnen, daß die immer mehr nachlassende, schon minder genug gewesene, Qualität seit einiger Zeit auch nicht mehr durch einen entsprechend niedrigeren Preis ausgeglichen wurde.

Der leichte Schneeregen hatte sich zu einem kleinflockigen Schneefall zu verdichten begonnen. Aber auch das bewog ihn, warm wie er sich inzwischen gelaufen hatte, nicht, seinen Rhythmus zu ändern, den er durchhielt, ohne seine Schritte zu beschleunigen.

Als er mit einer sich wie von selbst vollziehenden Geste die ersten Flocken, die sich auf Armen und Revers seines Mantels festsetzten, mit Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand wegschnippte, und ihn der Unsinn dieser automatischen Handlung zu amüsieren begann, fühlte er einen Anflug jener kindhaften Winterseligkeit in sich aufsteigen, mit der er Schneefall seit jeher in einer Mischung aus gesetzter Feierlichkeit und freudigem Übermut als eine geschenkte Auszeit aus den Alltagsmühen genossen hatte, und, still in sich hinein lächelnd, bemerkte er, daß ihm, wohl zum ersten Mal seit Wochen, richtig wohl geworden war, so sehr, daß die Fähigkeit, auch das Widrige, wozu diese Witterung doch eigentlich gehörte, zu genießen, tief beruhigend daran erinnerte, daß die Glücksfähigkeit auch in ihm noch ruhte, sie es immer tat, und sie inmitten auch der unangenehmsten Lebenswidrigkeiten, so sehr sie einen plagen mochten, jederzeit aufgerufen werden konnte zur Verwandlung eines widerwillig erfüllten Tageslaufs in einen guten Tag.

Diesen Gedanken, zu dem die sich in einem Glücksmoment verdichtende Wahrnehmung unter dem fortgesetzten winzigen Brennen der auf sein Gesicht unablässig auftreffenden Schneeflocken werden wollte, gerade fassend, beschleunigte er nun seinen Gang, erschien ihm der gleich bevorstehende Rückweg doch mit einem Mal als lang, entschlossen und erfreut über die Eingebung, wie er nun war, den Nachmittag und Abend damit zuzubringen, seine kleine Verwandlung der, die ihm so nahe ging und so fern war, zu ihrer eigenen Ermutigung in der Bedrängnis, in die ihr Leben geraten war, zu berichten, und - wie schön wäre es, sollte ihm das gelingen - Gleiches, wenn er es nur durchhielte, von heute ab regelmäßig zu tun.

Nun mußte er sich fast zwingen, seinen Weg auch fortzusetzen und seine Besorgung, die doch nur ein Alltagsritual auf der täglichen Flucht vor seinen Sorgen war, auch zu machen, statt auf der Stelle umzukehren.

Nur dies noch denkend, stellte er sich vor, wie Duft und Geschmack des Tabaks ihn beflügeln würden, es aufzuschreiben, und er eilte, glücklich über jede Schneeflocke, die ihn dabei noch traf, zurück nach Hause, wo er sich einen ersten Zigarillo erst anzündete, als er zu schreiben bereits begonnen hatte, hastig, da er den Füller dazu für einen Moment aus der Hand legen mußte, die nun rasch und frei mit ihm über das Papier glitt wie schon seit langem nicht mehr.

Es war ein guter Tag geworden.



© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007
Beispielbild
Andreas Steffens
Foto © Zbigniew Pluszynski


Andreas Steffens

Schriftsteller und Philosoph; PD Dr. phil. habil., M.A..

geb. 1957 in Wuppertal; nach dem Studium in Düsseldorf und Münster neben der wissenschaftlichen Arbeit seit 1980 Tätigkeit als Galerist und Kritiker (1980-1990 Mitbegründer und -betreiber der Galerie Epikur, Wuppertal);

1997 Gründung der Künstler-Gruppe „das künstliche gelenk“ (www.kuenstliches-gelenk.de), mit ihr interdisziplinäre Aktionen einer situativen Ästhetik (u.a. ART Frankfurt, Bahnbetriebswerk Bestwig, Universität Köln, Kunstverein Heidelberg);

1987 Preis der Stiftung zur Förderung der Philosophie;

1987-1990 Redakteur und Mitherausgeber der zeitmitschrift. Journal für Ästhetik und Politik, Düsseldorf;

1995 Habilitation an der GhK/Universität Kassel („Die Erfahrung der Geschichte“); lehrt seitdem als Privatdozent Philosophie mit den Schwerpunkten Kulturtheorie, Anthropologie und Ästhetik an der Universität Kassel;

1997 Gast am Wissenschafts-Kolleg New Europe Collage in Bukarest; neben der wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit Beratertätigkeit (u.a. seit 1997 im ‘PKW Philosophiekreis Wuppertal’,

2002-2004 als Personalberater bei der UWP Mittelstandsakademie GmbH, Düsseldorf)

Autor zahlreicher  wissenschaftlicher, kunstkritischer  und literarischer Veröffentlichungen (u.a. in: Neue Rundschau, zeitmitschrift,  Paragrana, Weimarer Beiträge, neue bildende kunst);

seit 1997 in neue deutsche literatur (Berlin: Aufbau-Verlag); dort 2001-2004 eigene Kolumne „Fundstücke“; Essays, Kritiken und Reden zu Kunst und Künstlern

Wichtigste Bücher:

Nach der Postmoderne (Hg.), Bollmann Verlag: Düsseldorf 1992

Poetik der Welt, europäische verlagsanstalt: Hamburg 1995

Philosophie des 20. Jahrhunderts oder Die Wiederkehr des Menschen, Reclam-Verlag: Leipzig 1999

Petits fours, zusammen mit Annette Lucks: 13 Radierungen zu Aphorismen, bibliophiles Künstlerbuch, Privatdruck München 2003