Seh-Reise (13)

Dreizehnte Ausfahrt: Egon Schiele

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (13)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
13. Ausfahrt: Egon Schiele

Eine Woche lang habe ich fragend in dieses Gesicht eines Jünglings geschaut. Was für ein Blick ist das? Die Starrheit seiner großen dunklen Pupillen, widerläufig zur Richtung des Gesichts, leicht überanstrengt. Das Ziel dieses Blickes ist klar. Der Spiegel im Atelier, damit du dich malen kannst, Jüngling.
Wer aber bist du?
Keines meiner Worte, die ich dir und deinem Schauen zugelegt habe, traf es. Kühle Abstandnahme? Überlegenheit, gar Verachtung? Stolz? Selbstverliebtheit? Traurigkeit? Das kantige Ohr in deinem schroff gemalten Gesicht, im Halbprofil, unter dem nach oben wegstrebenden dichten dunkelbraunen Haarschopf – die geweißte Hautfarbe der Backen, der klobigen Nase, der vorspringenden Stirn - es hat von allem etwas, ohne es ganz zu sein. Die vollen Lippen deines kleinen Mundes, die kußbereiten, dementieren die herbe Kühle, in die du dich hüllst – und verbirgst?
Ja, wer bist du? Weißt du es selbst? Ist es dir überhaupt wichtig? (Doch, sonst säßest du ja nicht vor deinem Spiegelbild, um es festzuhalten.)
Auch das Weiß, in das du dich hineinmalst, bleibt ohne Antwort. Nicht die Spur von einem Hinweis bei den roten Kelchen der Lampionblume, die du – immerhin – als einzig schmückendes Attribut neben dir gelten läßt, unter ihren eingetrockneten Blättern. Kleine Laternen von knisternder Stofflichkeit. Sie antworten dem Rot deiner Lippen, das ohne sie zu gewichtig würde. Nähern sie sich nicht der Herzform an? Und das leblose braune Blatt greift dir sogar ins Haar. Du läßt es zu, als etwas, das hinter deinem Rücken geschieht, ohne dein Zutun, jenseits deiner Verantwortung. (Aber malen tust du es, immerhin.)



Egon Schiele, Selbstpoträt mit Lampionfrüchten, 1912

Was bleibt mir als bestimmend zurück von deinem Selbstporträt, wie du dich mit zweiundzwanzig Jahren gemalt hast? Wohl doch das Rot der weichen Lippen, voller Leben und Liebe, in einem kantig harten Jünglingsgesicht. Das Sigel der Jugend. Die kürzeste Phase, die dem Menschen gegeben ist, zu schnell, zu heftig, um sich um Antworten zu scheren, die Zeit, die noch ohne Gewicht scheint, damit zu vergeuden.
In den Tagen, da ich das Gesicht des Egon Schiele täglich vor Augen hatte, das Gesicht eines Zweiundzwanzigjährigen, kamen mir, ungesucht, mit der scheinbaren Willkürlichkeit des Zufalls, die Gedichte eines jungen Mannes auf den Tisch, dessen Namen ich noch niemals gehört hatte: Hermann Kükelhaus. Ein kleines vergilbtes Bändchen, das 1947 in Potsdam erschienen war, posthum. Bereits 1944 war Hermann Kükelhaus umgekommen, in Berlin. Bei dem Versuch, das Feuer der Kriegsbomben zu löschen, fiel er vom Dach eines mehrstöckigen Mietshauses auf die Straße. Er war nach einem Kopfschuß, der ihn als Soldat in Rußland getroffen hatte, auf Genesungsurlaub in die Heimat geschickt worden. Selbst noch nicht wiederhergestellt, stellte er sich freiwillig als Brandlöscher zur Verfügung. Gerade zweiundzwanzig Jahre war er alt, als er zu Tode kam, ein großer deutscher Poet, mit einem Werk von knapp hundert Gedichten. Darin las ich Worte von einer Kraft, die mich verstummen ließ.
Jugend! Innerhalb einer Woche sah ich mich konfrontiert mit der unüberholbaren, der einzigartigen Genialität von Jugend, als Bild und in Versen. Es stellten sich keine Fragen mehr. Eine Antwort blieb aus. Schweigen.
 
Egon Schiele, Selbstbildnis mit Lampionfrüchten, 1912
Sammlung Leopold, Wien
 
Redaktion: Frank Becker