Seh-Reise (11)

Elfte Ausfahrt: Ernst Barlach

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (11)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
11. Ausfahrt: Ernst Barlach

Das plastische Bildnis eines Menschen, das die Schönheit seines (unseres) Körpers feiert und steigert, indem sie alles Unwesentliche, bloß Individuelle ausläßt. Die Umrißlinie einer Person vom Kopf bis zu den Füßen verhüllt, auch ihre Geschlechtlichkeit bleibt offen. Mund und Nase des tiefgesenkten Gesichts unter dem Tuch nur zu ahnen. Lediglich die weit vorgestreckte linke Hand, die Füße zeigen sich nackt.
Halb sitzt, halb liegt sie, die Person, ganz auf Profil gearbeitet. Vorgestreckt an langem Arm die hingehaltene offene Hand, die erst auf den Füßen Halt findet. In einer Gegenbewegung der Oberkörper der Person: eine gerundete Linie, vom Scheitel bis zum Sitz, eine Kurve der Demut, flach, geduckt. Hier gibt sich jemand selbst aus der Hand. Das Haupt tief gesenkt (rund unterm Gewand wie ein Pfeifenkopf), daß es fast auf das Knie zu liegen kommt. Gerundet wie eine Frucht, dieser Mensch. Nur die nackte, die offene Hand ragt darüber hinaus. Ihre Finger reißen, ganz still, von innen die stilisierte Geschlossenheit des Menschenkörpers auf, im Gestus des Heischens, des Bittens.
Dennoch kann sie sich, trotz ihres stummen Pathos‘, kaum behaupten gegenüber der ästhetischen Vollkommenheit der Umrißlinie. Die Oberfläche der Plastik ist poliert, daß sie glänzt. Man möchte mit der Hand über ihre schmeichlerische Glätte fahren.



Ernst Barlach Russische Bettlerin, 1907 - Foto © Jula2812
 
Der Bildhauer hat seiner Plastik von 1907 den Titel „Russische Bettlerin“ gegeben. Die Armut ist ausgelagert aus Deutschland, nach Rußland, wie damals im westlichen Europa häufig, zehn Jahre vor der bolschewistischen Revolution. Warum fällt es mir heute so schwer, der Armut dieser Person zu glauben? Gar zu stilisiert, zu glatt, zu glänzend trägt sie sich vor sich her – wie eine theatralische Geste. Diese Armut ist zu schön, um wahr zu scheinen. Ich habe den eleganten Schwung ihres Abbildes während der Woche, die es in meiner Küche hing, zu sehr genossen, um auch nur für eine Sekunde Hunger zu spüren, Kälte, Erniedrigung.
Die Bildkarte der „Russischen Bettlerin“ von Ernst Barlach ist, gegen meine Gewohnheit sonst, datiert, auf den 8. Juni 1972. Vor sechsundvierzig Jahren habe ich sie inLübeck gesehen. Damals studierte ich Literatur an der Universität Bonn und steckte mitten in meiner Doktorarbeit – über Thomas Mann. Es war höchste Zeit geworden, mich endlich in sein Lübeck zu begeben und dort die Luft seiner Kindheit und frühen Jugend zu atmen, die Örtlichkeiten von „Buddenbrooks“, seinem ersten Roman, mit eigenen Augen in natura zu sehen.
Unterkunft fand ich in der Jugendherberge, und wenn ich heute an die Tage in Lübeck zurückdenke: Es ist nicht Barlachs russische Bettlerin - am lebendigsten ist das Bild von D. geblieben, ein stilles Mädchen aus Gelsenkirchen, mit sehr heller Haut, das ich dort kennenlernte. Die Nähe zwischen Gelsenkirchen und Bonn war uns günstig. Es entwickelte sich eine heftige Liebesbeziehung zwischen uns, in gegenseitigen Besuchen. Der Leidenschaft war keine längere Frist gegönnt. Leidenschaft und Dauer wohnen auf verschiedenen Sternen. Sie berühren sich für eine kurze Weile und lösen sich bald im Kosmos wieder auf, um weiter auf ihren eigenen Bahnen zu ziehen. Vielleicht sind deshalb diese Begegnungen das reinste Glück, das für den Menschen im Leben abfällt.
Ein Bogen zurück zu Ernst Barlach will der Erinnerung nicht gelingen.
 
Ernst Barlach, Russische Bettlerin, 1907
Behnhaus, Lübeck
 
Redaktion: Frank Becker