Seh-Reise (3)

Dritte Ausfahrt: Jean Antoine Houdon

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (3)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
Dritte Ausfahrt: Jean Antoine Houdon
 
Der Mensch erliegt seinem Auge. Er kann nicht anders, als sich am Schönen zu erfreuen. Die Kunstpostkarte dieser Woche überm Spülbecken aus Aluminiumblech offenbarte mir ästhetische Vollkommenheit: Jean Antoine Houdons Plastik „Die Fröstelnde“, von 1781.
Eine Frauenfigur, nackt hüftabwärts. Im Kontrapost von Stand- und Spielbein steht die Figur auf einer schmalen Platte ohne jedes ablenkende Attribut. Oberkörper und Kopf in ein Tuch gehüllt, das mit beiden Armen, über dem Bauch gekreuzt, zusammengehalten wird. Der Kopf so tief gesenkt darunter, daß das Gesicht kaum zu sehen ist. Die junge Frau (das Alter ist nur am Wuchs ihres herrlichen Unterkörpers abzulesen) friert. Ich kann es mir nicht anders vorstellen, als daß sie ihre Augen geschlossen hat, als ließe sich ein Ausfließen ihrer inneren Wärme hinter den Lidern zurückhalten.
Eine vollendete Figur, auch noch im Zustand offensichtlicher Not. Das Frieren sieht man ihr an. Aber auch das ist schön. Nicht einen Anflug von Mitleid empfand meine Sehbegierde für sie. Selbst Kälte kann ihr nichts anhaben. Es ist ein Mensch zu sehen, der sich selbst genießt, seine Schönheit. Eine Woche lang habe ich mitgenossen.
Doch ein Mißton in meinem interesselosen Wohlgefallen war nicht zu überhören, von Anfang an.
Etwas stört mich an dem Bildnis. Oder sollte ich sagen: Es ist mir zu viel der Schönheit an ihr? Auch wenn ihr Blick nach innen gehen mag, ist diese junge Frau nicht bei sich und für sich. Sie posiert. Ihre Haltung verrät, daß sie sich betrachtet weiß. Sie friert nicht, sondern sie stellt das Frieren dar, als „bella figura“. Um Eleganz ist es ihr zu tun, um Haltung vor der Welt. Fehlen mir vielleicht die „stille Einfalt und erhabene Größe“, die Winckelmann, ein Zeitgenosse des Bildhauers Houdon, der Kunst der Antike nachgeträumt hat? (Beide haben sich zur gleichen Zeit in Rom aufgehalten.) Eleganz verhält sich zur Welt, die Erhabenheit zum Sein. Ja, dieser Seinsbezug ist es, der mir abgeht und mich, im Genuß der verführerischen Schönheit, doch selbst auch ein wenig frösteln läßt.
Eine Bestätigung meines Unbehagens erfahre ich, als ich mich ein wenig über Houdon informiere. Im Brockhaus finde ich das gleiche Bild gezeigt. Jetzt heißt es „Der Winter“, zwei, drei Jahre später geschaffen als „Die Fröstelnde“. „Der Winter“ steht im Museum von Montpellier.
 
Meine „Fröstelnde“ sah ich in Schloß Friedenstein zu Gotha und nahm sie von dort als Postkarte mit nach Hause. Ein Stück eigener Familiengeschichte lenkte meinen Blick. In der kleinen Residenzstadt von Sachsen-Coburg-Gotha war ein Onkel als Opernsänger am Hoftheater engagiert, in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, Jahren der Armut, von Hunger und Kälte. Onkel Walter sang dort nicht mehr vor einer adeligen Hofgesellschaft. Er sang für die Soldaten der Roten Armee Rußlands, der „Sowjetunion“, wie es damals hieß. Er hat uns viel von dieser Zeit in Gotha erzählt, auch dann, als er längst den Weg in den Westen gegangen war. Und immer lief es dem kleinen Jungen dabei kalt über den Rücken, wenn von den „Russen“ die Rede war. Doch nie schimpfte der Onkel über sie, wie die anderen Erwachsenen, die die Russen fast alle nur vom Hörensagen kannten und in ihnen wenig mehr sahen als ehemalige Feinde oder Kommunisten. Nein, Onkel Walter schwärmte geradezu, wenn er sich seinen Erinnerungen an die bitterarme Zeit von Gotha überließ. Nie habe er ein besseres, ein dankbareres Publikum erlebt als die Rotarmisten im Hoftheater von Gotha (ach, hier im Westen schon gar nicht! Er schien seinen Schritt von damals längst bereut zu haben).
Es war kein Zufall, daß er seine Tochter, in den Fünfziger Jahren geboren, Tatjana nannte. Und diese Tochter führte seinen abgebrochenen Traum weiter. Sie studierte Slawistik, lernte Russisch, bereiste Rußland und die anderen Länder der Sowjetunion, fand Freunde dort, die sie für ihr ganzes Leben behielt. Wenn ich sie in Hamburg besuche, fehlt bis heute kaum je ein russischer Gast, der für eine Weile bei ihr wohnt.
An diese frühe Erfahrung aus dem Hörensagen im Kreis der Familie kann ich nie ohne ein Frösteln denken. Eine Spur des kindlichen Grauens ist geblieben, und gleichzeitig stellen sich dabei meine eigenen Glücksgefühle ein, die mir später dann, als ich mein Leben selbst zu verantworten hatte, im Umgang mit slawischen Menschen zuteil wurden.
Davon fand ich jetzt in Houdons Bronze, so sehr mein Auge sie eine Woche lang genoß, wenig. Irgendein Winkel in meiner Seele blieb unterkühlt zurück.
 
Jean Antoine Houdon, Die Fröstelnde (Der Winter), 1781 - Schloß Friedenstein in Gotha
 
Redaktion: Frank Becker