Seh-Reise (2)

2. Ausfahrt: Giovanni Bellini

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (2)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
2. Ausfahrt: Giovanni Bellini
 
 
Gern habe ich nicht geschaut auf die düsteren Farben unter der Woche. Lag es bloß an dieser herben Dunkeltonigkeit? Die Figuren des Mosaiks sind überwiegend anthrazitgrau, umgeben vom lodernden Flammenwerk der Hölle. Aber nicht in grellem Rot oder Orange und Gelb, sondern braun geworden über die Jahrhunderte. Braun und Dunkelgrau: eine Farbmischung, die dem Auge nicht behagt. Dennoch: Den Blick abwenden konnte ich nicht von dem Bild. Irgendein Gefühl war in mir angesprochen, und sei es eine Art von mildem Grauen.
Mit diesem Gefühl hatte ich auch in der Kirche vor dem Höllenmosaik gestanden, das die ganze große Wand der Apsis überzieht. Ich konnte mich kaum lösen vom Schauen, fasziniert, welche phantastischen Schreckensszenen die Mosaikbildner sich damals haben einfallen lassen, und ich nahm einen ganzen Schwung von Postkarten mit. Dagegen waren die Bilder vom Paradies weiter oben ohne jedes Interesse. (Es ist eine immer wieder bestätigte Seh-Erfahrung: Das Paradies langweilt, das Höllische kitzelt.)
Auf der Kunstkarte thront zentral ein alter Mann, nackt, nichts als ein grünes Laken überm Schoß. Der Kopf umrahmt von weißem Haar und
Vollbart. Ein ernst (keineswegs „böse“) dreinschauender Greis, mehr nicht: das Gesicht wie der muskulöse Leib in dunklem Grau. Jeder soll sehen und spüren, daß dieser Alte der (oder das) Böse sei. Zu beiden Seiten des Throns zwei gehörnte Ungeheuer, die Menschen verschlingen, die Verdammten. Die Oberkörper von zwei Unseligen sind bereits verschwunden im Rachen der Bestien, nur noch die Becken und Beine sind nicht verzehrt.
Das Szenario des Bösen in seinen Folgen, aus der Sicht des frühen Mittelalters. Womit ich die ganze Woche nicht zurande kam, war der junge Mann, der auf dem Schoß des grauen Alten sitzt. Weiß seine Haut, unter blondem Schopf, weiß wie das antike Gewand, das ihn einhüllt, die rechte Hand zum Gruß an die Welt erhoben. Diese lichte Gestalt kann doch unmöglich zum Reich des Bösen gehören, dachte ich die Tage beim Hinschauen, es muß sich um eine Darstellung des Heilands handeln, nach einer mir unbekannten Bibelüberlieferung.

Doch damit lag ich voll daneben, wie ich jetzt hinten auf der Karte lese. Es ist der Antichrist, grüßend auf dem Schoß seines Vaters Luzifer. Sollen wir, die wankelmütigen Menschlein, durch die angenehme Weißheit des Jünglings getäuscht werden? Eine Blenderei Satans, der auch ich jetzt eine Woche lang erlegen war?
Die chiliastische Sicht der Welt, Gut und Böse, Schwarz und Weiß: Sie reicht vom frühen europäischen Mittelalter bis in unsere Tage hinein, wo sie in der offiziellen amerikanischen Politik immer mal wieder ihre Rolle spielt - Reich des Satans, Reich der Guten. Wie nahe sie beieinander liegen, aus einem Schoß gekrochen, die beiden Grundkräfte, aus denen wir Menschen leben, an denen wir zugrunde gehen. Die Mosaikmaler von Torcello müssen es geahnt haben.

Das Abbild der Hölle. Ausschnitt eines venezianischen Mosaiks, aus der Basilika auf der Insel Torcello, frühes Mittelalter
 
Redaktion: Frank Becker