Der kranke Mann am Bosporus

Can Dündar – „Verräter – Von Istanbul nach Berlin, Aufzeichnungen im deutschen Exil“

von Johannes Vesper

Der kranke Mann am Bosporus

Can Dündar: Verräter
 
Der Chefredakteur der ältesten und angesehensten liberalen Zeitung der Türkei (Cumhuriyet) wurde von Erdogans Richtern verhaftet, drangsaliert und lebt jetzt in Berlin, weil er berichtet hatte, daß der türkische Geheimdienst illegal Waffen nach Syrien geliefert hat. Dieses „Geheimnis“ der Türkei hätte nach Auffassung Erdogans nicht publik werden dürfen. Dabei wurde die Tatsache als solche offiziell nie dementiert. „Wegen Aufdeckung eines Staatsgeheimnisse zwecks Versuch die Regierung zu stürzen“ wurde Dündar zu zweimal lebenslanger Haftstrafe verurteilt, kam aber frei. 900.000 Schulbücher, an denen er als Autor mitgearbeitet hatte, wurden verbrannt. Während des Putsches im Juli 2016 erholte er sich in Barcelona und kehrte lieber nicht in die Türkei zurück, sondern flog nach Berlin, wo er seitdem im Exil lebt. Er hat Angst vor dem türkischen „Rechtsstaat“, vor Erdogan und seinem Geheimdienst, der über staatliche Sender den Wohnort des „Verräters“ in Berlin ausstrahlt und ihn damit öffentlich an den Pranger stellt. Einhundertfünfzig Journalisten sind in der Türkei derzeit inhaftiert, schreibt Dündar.
 
Das vorliegende Buch schrieb er, um aus der Sicht des politisch Verfolgten in Deutschland und Europa gegen Erdogan und seinen türkischen Islamfaschismus zu kämpfen. Erdogans Erfolg in der Türkei wird erklärt mit dessen Herkunft aus kleinen Verhältnissen aus Armut und Bildungsferne. Da er den Aufstieg zum omnipotenten Staatspräsidenten geschafft hat, hoffen weite Teile der Bevölkerung auf vergleichbaren persönlichen Erfolg. Nachdem er die Macht im Staat errungen hatte, habe er endlich auch mal unterdrücken wollen und die ganze Türkei in ein Gefängnis verwandelt, benutze den Islam zur Rechtfertigung seines Repressionssystems.
Dündar wirft in dem Büchlein Europa und vor allem der Bundeskanzlerin vor, daß sie vor den faschistischen Entwicklungen in der Türkei „die Augen verschließen“ vor allem wegen des Flüchtlingsabkommens. Was genau von außen getan werden kann, wie die Schwierigkeiten im Umgang mit einem undemokratischen aber demokratisch gewählten Staatschef bewältigt werden könnten, dazu hat Dündar keine Idee. Er glaubt, weil die Türkei die Südostgrenze der NATO schützt und sie als Markt für europäisches Kapital und Investitionen eine bedeutende Rolle spielt, Europa und Merkel müßten und könnten alles tun, um die faschistische Entwicklung in der Türkei zu stoppen. Daß die „dummen“ Türken alleine mit ihrem Diktator fertig werden, glaubt der Autor nicht. Ob die Bundeskanzlerin mit ihren häufigen Besuchen in der Türkei und ihren Gesprächen mit Erdogan seine Politik und die „Dummheit der türkischen Massen“, die ihren Staatspräsidenten ja selbst gewählt haben (wie die Deutschen Hitler), überhaupt beeinflussen kann? Deutschland und Europa schulde der Türkei Solidarität. Schließlich habe sich Kemal Ataturk, nachdem Albert Einstein ihn darum gebeten hatte, 1933 bereit gefunden, unerwünschte deutsche Wissenschaftler aufzunehmen. So kamen u.a. Ernst Reuter, Paul Hindemith der Intendant der Deutschen Oper Berlin Carl Ebert nach Ankara und konnten sich vor den Nazis retten. Das waren Zeiten.
 
Immerhin äußert sich Dündar positiv über seine Aufnahme in Berlin. Innerhalb 1 Woche habe er über ein Stipendium des PEN verfügt, habe Kolumnen in der „Zeit“ geschrieben und eine schöne Wohnung gefunden, die erste und einzige, die er sich angesehen habe. Er zählt viele Preise und Auszeichnungen auf, die er in Deutschland und Europa erhalten habe. Er redet immer wieder über das Schicksal seines Landes und berichtet, mit welch wichtigen Menschen er darüber gesprochen hat: u.a. mit Bundespräsident Gauck, mit Merkel und Steinmeier. Sein persönliches Schicksal – die Trennung von seiner Frau, die nicht ausreisen durfte, die Zerrissenheit der Familie, die Sorge um die Finanzierung seines Hauses bis hin zur Trauer über den geliebten kleinen Hund der Familie – wird breit und anrührend geschildert. Nachdem er seine Zeitung verloren hat, sieht er in den sozialen Medien seine Chance und gründet in Berlin mit Mitstreitern eine Plattform im Netz mit Informationen und Kommentare für die Türkei unter dem Namen „Özgürüs“ . Kann auf diese Weise Erdogan aufgehalten werden? Die Plattform wurde dort schon gestoppt, bevor sie überhaupt online publiziert wurde.
 
Zum Zusammenhang zwischen Islam, Mohammed und dem Erdogan-Regime äußert sich Dündar nicht. Auch nicht dazu, was zu tun ist, wenn „verblendete Volksmassen“ ihre Lügner und Idole wählen (Trump, Erdogan, Brexit). Zur aktuellen politischen Situation der Türkei bietet das Büchlein kämpferisch Material und Informationen. Ob die jetzt erfolgte Freilassung der deutschen Mesale Tolu, die mit ihrem 2jährigen Sohn unter Terrorverdacht monatelang inhaftiert war, eine freie Entscheidung des Gerichts war oder von Erdogan für schlau gehalten wurde, ist unklar. Nicht nur in Polen entscheiden abhängige Richter im Sinne der Staatsführung. Allen Türken, wie auch allen Europäern, ist jedenfalls zu wünschen, daß der kranke Mann vom Bosperus schadlos überstanden wird, aber auch, daß die Rechtsstaatlichkeit in Europa nicht weiter demontiert wird.
Siehe auch: Can Dündar: Lebenslang für die Wahrheit. Auszeichnungen aus dem Gefängnis.
 
Can Dündar – „Verräter – Von Istanbul nach Berlin, Aufzeichnungen im deutschen Exil“
© 2017 Hoffmann und Campe Verlag, 185 Seiten, gebunden, Schutzumschlag - ISBN: 978-3-455-00188-4
20,-€
 
Weitere Informationen:  www.hoffmann-und-campe.de