Vom Vergnügen des Verrisses

Ein Theaterfeuilleton

von Frank Becker

Honoré Daumier - Im Theater
Ein Verriß - herrlich!
 
Warum es so vergnüglich ist,
über mißlungenes, skandalöses
oder auch nur schlechtes Theater zu lesen
(und zu schreiben...)
 
Der große deutsche Theaterkritiker Georg Hensel (1923-1996), einer der letzten einer aussterbenden Zunft, der 1972 in „Wider die Theaterverhunzer“ (detebe 31) in 13 polemischen Predigten mit schlechten Theaterleuten abgerechnet und 1983 in seinem köstlichen Buch „Theaterskandale und andere Anlässe zum Vergnügen“ (DVA) aufspießte, was nicht gefiel, gehörte zu denen, deren Verrisse man fast noch lieber las als ihre Hymnen. Friedrich Luft (1911-1990), der Olympier unter den Kritikern, dem wir die geniale Überschrift verdanken „Gegeben wurde Jago, Othello war nur Nebensache“ -Schillertheater Berlin, mit dem unvergessenen Boy Gobert (1925-1986) als Jago-, bewunderte Hensel seiner Fröhlichkeit wegen. Das ist etwas, das dem Kritiker mitunter abhanden kommt, wenn er im Theatersaal sitzt und Inszenierungen ertragen muß, die vorsätzlich oder aus purer Hybris gegen den Strich, gegen den Autor  und gegen das Publikum gebürstet sind. Curt Riess (1902-1993) hat es wundervoll verstanden, diesen Aspekt bei seinen Verrissen und Feuilletons herauszuarbeiten, u.a. in „Theaterdämmerung“ (1970 Hoffmann und Campe).

Daß der Verriß keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist, sondern seit eh und je zum Theater gehört wie das Verbot, hinter der Bühne zu pfeifen oder das „Schottische Stück“ beim Namen zu nennen, belegen die Chroniken. Genießen Sie heute, was am 1. Mai 1843 im Wiener „Sammler“ unter dem Kürzel „G.“ zu lesen war:
 
Theater in der Josephstadt.
 
Sonnabend, den 29. d.M. zum Vortheile der Schauspielerin Karoline Höfer zum ersten Male: „Schwager Kreuzkopf, oder: Der heimliche Handel“. Komisches Charaktergemälde, mit Gesang und Tanz in drei Aufzügen, von Karl Elmar. Musik von Hrn. Kapellmeister Binder.
Es gibt Dinge unter dem Monde, wovon sich unsere Philosophie nichts träumen läßt, und worüber die verständige Menschheit staunend schweigen muß. Zu diesen Dingen gehört vor allen das heutige sogenannte „Charaktergemälde“, das wol allerdings ein „Gemälde“ seiner Herkunft wegen genannt werden kann, in dem aber auch nicht die geringste Spur von Charakter, Witz, Spaß, drolligen Situationen, Handlung oder überhaupt nur von irgend einem Dichtertalente zu entdecken ist. Wir haben doch in neuester Zeit viel des Schlechten in diesem Fache gesehen, aber ein so saft- und kraftloses, verworrenes Machwerk wie das in Rede stehende, ist uns schon lange nicht zu Gesicht gekommen, weshalb wir es am gemessensten halten, über die näheren Details dieses Stückes zu schweigen, und nur schließlich noch unser Bedauern auszudrücken, daß die beschäftigten Mitglieder dieser Bühne: HH. Weiß, Feichtinger, Buel und die liebliche Benefiziantin sich erfolglos bemühten, dem todtgebornen Geisteskindlein Leben einzuhauchen, so wie auch die thätige Direktion dieses Theaters vergebens für eine anständige Ausstattung an Kostumes und Tänzen gesorgt hatte. Die Musik des Hrn. Binder ist besser als das Stücke selbst. Der Besuch war zahlreich.


Weiterführende Literaturhinweise (Auswahl):
- Georg Hensel - „Wider die Theaterverhunzer“, 1972 detebe 31
- Georg Hensel - „Theaterskandale und andere Anlässe zum Vergnügen“, 1983 DVA
- Curt Riess - „Theaterdämmerung oder: Das Klo auf der Bühne“, 1970 Hoffmann und Campe
- Curt Riess - „Theater gegen das Publikum“, 1985 Langen Müller
- Günther Rühle - „Theater für die Republik“, (2 Bd.), 1967/1988 S. Fischer
- Friedrich Torberg - „Der Beifall war endenwollend“, 1989 dtv 1481
- Friedrich Torberg - „Mensch Maier! sagte der Lord“, 1975 dtv 1059
- Alfred Kerr - „Mit Schleuder und Harfe“, 1981 Henschelverlag / 1982 Severin und Siedler
- Paul Rilla - „Theaterkritiken“, 1978 Henschelverlag
- Friedrich Luft - „Stimme der Kritik“, (2 Bd.), 1961 Friedrichverlag / 1979 DVA
- Heinz Beckmann - „Nach dem Spiel“, 1963 Langen Müller
- Alfred Polgar - „Sperrsitz“, 1980 Löcker Verlag
- Marcel Reich-Ranicki - Lauter Verrisse, 1984 DVA