Eine schimmernde Perle

Amélie Nothomb – „Töte mich“

von Frank Becker


Coverfoto © George Barkentin/Condé Nast/Gettyimages
Ein Baiser
 
Der Plot: Die 17-jährige Tochter des Grafen Neville gibt Anlaß zur Sorge. Eines Nachts läuft sie von zu Hause davon und wird im Wald halberfroren von einer Wahrsagerin aufgefunden. Als der Vater das Mädchen abholt, prophezeit ihm die Hellseherin, er werde demnächst einen Menschen töten. Die Tochter macht sich diese Weissagung zunutze. Sie versucht den Vater davon zu überzeugen, daß sie das perfekte Opfer ist. Ein Märchen voller böser Vorzeichen und mit einem Happyend.
 
Dieser ganz kleine Roman, den man sich an einem Sommernachmittag zwischen Tee und Abendessen auf der Zunge zergehen läßt, ist ein sprachliches wie moralisches Kunstwerk voller Humor, geistreicher Dialoge und Reflexionen. Zunächst gilt es für den untadeligen belgischen Aristokraten herauszufinden, wen er denn bei der in wenigen Tagen stattfindenden alljährlichen Garden-Party umbringen könnte, um der verhängnisvollen Prophezeiung gerecht zu werden. Einige kämen in Frage, denn es gibt in herrschaftlichen Kreisen durchaus einige höchst verzichtbare Gestalten. Auch erheben sich die Fragen des Wie, Wann und Wo.
Henri de Nevilles Tochter Sérieuse hingegen, in der Sinnkrise der Pubertät, verstrickt den Vater in einen höchst eloquenten Wortwechsel, mit dem sie den tradionsbewußten und pflichttreuen Adligen energisch von der Notwendigkeit überzeugen will, daß ausgerechnet sie das prophezeite Opfer der angekündigten Mordtat sein müsse. So verzweifelt die Situation der Disputanten aufgrund Todeswunsch, gegenseitiger Liebe, hilfloser Verzweiflung und gesellschaftlicher Reputation auch ist, die Auseinandersetzung der beiden zaubert dem Leser allein durch ihre sprachliche Delikatesse ein Lächeln ins Gesicht.

Amélie Nothomb und ihre Übersetzerin Brigitte Große haben mit diesem Buch Brillantes geleistet. In so wenige Seiten so viele glänzende Personen- und Charakterbeschreibungen, Biographien, Emotionen und Reflexionen zu packen – ohne den Text zu überladen – läßt  spontan den Vergleich mit einem keinesfalls zu süßen literarischen Baiser aufkommen. Ja das ist es: Gehaltvoll und doch luftig, spröde und von delikater Süße. Gut, ein gewisses Bittermandel-Aroma ist raffiniert ins Rezept genommen, aber das verfliegt mit dem ungemein witzigen Ende, das herzlich lachen läßt.
 
„Töte mich“ ist eine zierlich schimmernde Perle, die sanft aus dem Talmi-Ramsch der zeitgenössischen Literatur herausleuchtet. Von uns dafür den Musenkuß.
 
Amélie Nothomb – „Töte mich“
Roman – aus dem Französischen von Brigitte Große
© 2017 Diogenes Verlag, 111 Seiten, Ganzleinen, Schutzumschlag – ISBN 978-3-257-06989-1
20,- €
Weitere Unformationen:  www.diogenes.ch