„Das ist mein Leben.“

David Foenkinos – „Charlotte“

von Johannes Vesper

„Das ist mein Leben.“

Charlotte. Roman von David Foenkinos
 
 „An einem Grabstein lernt Charlotte ihren Namen lesen“.
Damit beginnt die Geschichte.
 
Ihre Tante, nach der die kleine Charlotte genannte wurde, springt 1913 in finsterer Nacht von einer Brücke in das eisige Wasser. Die Großmutter der kleinen Charlotte, der Großonkel, dessen Tochter, der Onkel der Großmutter, ihre Schwester, deren Mann, ein Neffe, die Mutter von Charlotte alle haben sich umgebracht, sind aus dem Fenster gesprungen, ins Wasser gegangen, haben Schlafmittel genommen. Wahnsinn! Großvater wird ihr das alles erzählen, wird berichten, daß er und Oma nicht zur Beerdigung ihrer Mutter mitgegangen sind. Leises Singen und Klavierspiel helfen ihrer Mutter nach dem Tod der Schwester wieder am Leben teilzunehmen. Sie konnte das alles nicht mehr ertragen und ahnte weder ihr noch ihrer Tochter Schicksal.
 
In diese Familie wird 1917 Charlotte Salomon hineingeboren. Ihre Mutter hatte als Krankenschwester im 1. Weltkrieg den jungen Arzt Albert Salomon beim Operieren im Frontlazarett kennen gelernt. Er ist ehrgeizig und stürzt sich in die Arbeit, will nach Kriegsende Karriere in Berlin machen. Charlotte ist viel mit ihrer also quasi alleinerziehenden Mutter zusammen, deren melancholische Stimmung sich zunehmend ausbreitet. Die brave Charlotte lernt, damit umzugehen. „Wird man so zur Künstlerin? Indem man sich an den Wahnsinn der anderen gewöhnt?“. Charlotte wird nicht erfahren, daß sich ihre Mutter aus dem Fenster gestürzt hat. Sie sei an der damals grassierenden mörderischen Spanischen Grippe gestorben, wird ihr gesagt. Der Vater kann nicht allein bleiben und lernt Paula kennen, die erfolgreiche Sängerin, zu der Charlotte ein besonderes Verhältnis aufbaut. Der Nazi-Terror beginnt bei einem Konzert Paulines. In die Ovationen des Publikums mischen sich auf einmal Schreie, Pfiffe von den oberen Rängen. Bald denkt die Familie darüber nach, Deutschland zu verlassen. Albert sagt: nein. Er will hier bleiben und verbreitet Optimismus. Billy Wilder stammte aus Ostpolen und war ihm gedanklich voraus. Er verließ Berlin gleich nach 1933 und äußerte sich später: „Die Optimisten kamen nach Auschwitz, die Pessimisten nach Beverly Hills.“
 
Charlotte beginnt zu malen und kann sogar nach Fürsprache des großen Ludwig Bartning die Berliner Kunstakademie besuchen. Aber Nazi-Deutschland engt die Lebensumstände von Juden, Künstlern und Intellektuellen zunehmend ein. Bücher werden verbrannt bzw. gelangen ins Ausland, wie die berühmte, kunsthistorische Bibliothek Aby Warburgs. Seine Freunde haben sie nach seinem Tod vor Nazi-Deutschland gerettet und nach London gebracht. Dem inzwischen bekannten Vater Albert Salomon wird 1933 die Professur entzogen. Er darf in seiner Privatpraxis nur Juden und Angehörige behandeln. Im Zuge der Pogrome von 1938 wird er für einige Monate vorsorglich schon einmal in ein KZ verschleppt, was er psychisch kaum verkraftet. Aber auf Drängen der Familie flieht angesichts der Verhältnisse wenigstens Tochter Charlotte nach Frankreich.
Das gesamte Buch soll hier nicht vorweg erzählt werden. In einfachem Stil mit knappen Sätzen werden die Ereignisse lapidar, wie in Stein gemeißelt geschildert, und der Leser ist fasziniert, wie Autor und Übersetzer (Christian Kolb) der furchtbaren Geschichte der Malerin Charlotte Salomon nachspüren. Das Wagnis eines Nebensatzes wird nicht eingegangen. Alles ist wohl gleich wichtig. Unter den 6 Millionen umgebrachten Juden waren ca. 165.000 deutsche Mitbürger. Vor der Wielandstraße 15 in Berlin weisen Stolpersteine auf die hier erzählte Geschichte der Familie Salomon hin. Unter jedem Stolperstein ruhen die aufwühlenden Lebensgeschichten unserer Landsleute und ehemaligen Nachbarn. Dadurch, daß der Autor auch Lebensstationen von Charlotte in der Berliner Wielandstraße 15 wie in Südfrankreich (Villefranche) besucht, daß er seine Recherchen und Gespräche mit Zeitzeugen übergangslos in den Roman einfließen läßt, wird deutlich, wie sehr er Anteil an diesem historischen Schicksal nimmt. Seine Anteilnahme überträgt sich auf den Leser, der, wenn er zu lesen beginnt, nicht mehr aufhören wird.  
 
In Südfrankreich wird Charlotte von der französischen Polizei festgenommen und mit ihrem Großvater in das Lager Gurs (Pyrenäen) verbracht. Hannah Arendt ist auch dort eingesperrt. Das Lager war ursprünglich für Gefangene aus dem spanischen Bürgerkrieg gebaut worden, später wurden dort entsprechend den Verabredungen mit Vichy-Frankreich vor allem süddeutsche Juden festgehalten, die später alle in Auschwitz umgebracht wurden. Über die Pyrenäen wollen zu dieser Zeit viele deutsche Intellektuelle fliehen. Einer der berühmtesten ist Walter Benjamin, der in Port Bou endgültig verzweifelt und sich umbringt.
Bei zunehmender Verschlechterung des Allgemeinzustandes ihres Großvaters werden die beiden tatsächlich noch mal freigelassen und erneut von einer amerikanischen Freundin aufgenommen, bei der Charlotte malt, um nicht verrückt zu werden. „Leben? Oder Theater“ nennt sie den autobiografischen, gemalten Roman ihres Lebens, malt und schreibt am Rande des Abgrunds, schafft eine Gegenwelt zu ihrer grauenhaften Gegenwart, zur Welt des 20. Jahrhunderts.
 
Wenn der Franzose Foenkinos nicht nur über Nazi-Deutschland schreibt, sondern auch darüber, wie französische Denunzianten die Juden verraten und französische Polizei die Juden festnehmen und nach Deutschland verladen, dann wird deutlich, welch europäischen Kulturbruch Nazi-Deutschland zu verantworten hat. Die 26jährige Charlotte wird in Frankreich von ihren Nachbarn denunziert, festgenommen und im 4. Monat schwanger nach Auschwitz transportiert.
Im Epilog erfährt der Leser die Geschichte von Vater Albert, der Sängerin Paula Lindberg und deren Gesangslehrer Alfred nach dem Krieg. Ihren Bildroman „Leben? Oder Theater?“ hatte Charlotte Salomon in Villefranche dem Arzt Dr. Moridis übergeben mit den Worten: „Das ist mein Leben“. So wurde das Werk erhalten, wurde 2008 in einer Hörspielversion in Wuppertal beim Else-Lasker-Schüler Symposion aufgeführt und 2012 teilweise auf der documenta in Kassel gezeigt. Weitere Ausstellungen gab es in Amsterdam, Berlin und anderswo.
David Foenkins, geb. 1974, gilt seit 2002 als französischer Erfolgsautor. Er studierte Literatur und Jazzgitarre und seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Sein erfolgreichstes Buch („Nathalie küßt“) wurde verfilmt.
 
David Foenkinos – „Charlotte“
Roman, aus dem Französischen von Christian Kolb
© 2015 DVA, 237 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-421-04708-3
17,99 €

Weitere Informationen: www.randomhouse.de/