Ein Loch ist schnell in die Welt gestochen

Nora Gomringer – „Moden“

von Frank Becker

Umschlaggestaltung: Reimar Limmer
Wenn wir Sheila sehen könnten…
 
Stil ist völlig unnötig,
wenn man eine Mutter hat.
(Nora Gomringer)
 
Jedesmal, wenn ich ein neues Buch von Nora Gomringer gelesen habe, aus dem Verlag Voland & Quist, notabene, denke ich nach entzückter Lyrik-Lektüre und dem Anhören der beigelegten CD mit Nora Gomringers Vortrag: Also das übertrifft jetzt aber wirklich keiner! Womit ich Recht und Unrecht habe. Denn in der Tat, kein Anderer und auch keine Andere verfügt derzeit über solch lyrische Wucht, ihre Bücher sind auch durch die kluge Gestaltung, die Verbindung von scharfsinnigem Urteil, hellwachem Text und raffiniertem Layout eine solitäre Lust der Augen, des Verstandes und dank der beigegebenen  Tonaufzeichnungen mit der Stimme der Dichterin auch der Ohren.
 
Aber dann folgt der nächste Band – und das Staunen, die Freude, das beinahe diebische Vergnügen beginnen aufs Neue. So auch jetzt nach „Monster Poems“ und „Morbus“ mit den 25 Gedichten des dritten Band ihrer Trilogie der Oberflächen und Unsichtbarkeiten: „Moden“. Der sieht auf den ersten bunten Blick aus wie eine verkleinerte Modezeitschrift aus den 1970ern, doch schon der zweite Blick macht klar: Das wird bitter. Denn so, wie Nora Gomringer uns mit subtilem Tropf scharfe Säuren einträufelt, hält es Reimar Limmer kongenial mit der Gestaltung von Umschlag und Text-Illustrationen. Kollagen von Versatzstücken zeitloser Mode-Broschüren, Kuriositäten und Kolonial-Erinnerungen begleiten knallbunt harmlos erscheinend und auf Augenhöhe die süß verpackten, nichtsdestoweniger ironischen bis bösen, gelegentlich bitterbösen oder tieftraurigen Blicke Nora Gomringers auf Gegenwart und Vergangenheit.
 
Es ist ein am Stichwort „Moden“ festgemachter Panoramablick auf Kultur und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts mit Abstechern in die Zeit davor, der dem Leser, der Leserin durchaus einige Kenntnis der Kulturgeschichte abverlangt. Wo die fehlt, fühlt man sich bemüßigt nachzuschlagen – also durchaus auch Lyrik mit Bildungseffekt. Zeitgeschichte, Kolonialismus, Schönheitsideale, Film, Mythologie, Emanzipation, Torheit, Erotik und als Kernthema die Mode samt ihren Auswüchsen und Wirkungen ziehen ihre Spuren durch diesen in jeglicher Hinsicht brillanten Band, der nicht nur die Trilogie abschließt, sondern dem Œuvre Nora Gomringers ein weiteres Glanzlicht hinzufügt.
Für die Musenblätter das Buch des Monats und mit unserem Prädikat, dem Musenkuß ausgezeichnet.
 
Der Samt ist Weltallmelodie
auch er soll locken und die Männer
zart machen im Fleisch.
(aus: Dirndl)
Nora Gomringer – „Moden“
Gedichte (Buch + CD)
Graphische Gestaltung, Satz und Illustrationen von Reimar Limmer
© 2017 Verlag Voland & Quist, Kartoniert / Broschiert, Audio-CD - ISBN: 9783863911690
18,- €
 
Weitere Informationen:  www.voland-quist.de/  -  www.nora-gomringer.de