Die alten Verliebten

von Karl Otto Mühl

Foto © Karl-Heinz Krauskopf

Die alten Verliebten
 
Natürlich wußte ich, daß es wieder einmal unnütze Grübeleien und Überlegungen waren, aber immer wieder schlichen sie unbemerkt ins Zimmer und saßen plötzlich um mich herum¸ Überlegungen über den Tod, das Leben, die Zeit.
 
Besonders die Zeit, die hatte es in sich. Mal war sie kurz, mal war sie lang, am Schluß meistens etwas zu wenig. Sie ließ sich einteilen, aber, wenn die Einteilung verblaßte, konnte man sehen, daß sie nur das getan hatte, was sie wollte. Und sonst nichts.
Und irgendwann zwinkere sie uns zu und behauptete, es gäbe sie überhaupt nicht. Wir selbst hätten sie erfunden.
Und über die Vergangenheit, die war ja auch Zeit, möchte ich gar nicht reden. In manchen Augenblicken schrumpft sie auf die Größe eines Stecknadelknopfes zusammen.
Und dann gab es Anrufe wie diesen von soeben, in denen dehnte sich plötzlich ein Horizont von Jahrzehnten vor mir aus, und ich sah den bleichen Franz Zajonsiki in seinem Bett im Hospiz, und er sagte: „Ich spüre es schon, ab morgen geht es besser.“
Am nächsten Tag war er tot.
 
Zajonski war Schlosser, Poet, impulsiv und jähzornig. Ich habe ihn bis zu seinem Tode besucht und später seine Geschichte aufgeschrieben. In der nenne ich sie Brigitte. Brigitte hatte sich wegen seiner Unverträglichkeit schon vor seinem Tode von ihm gelöst und sich Heinrich angeschlossen, versorgte Franz aber täglich mit Essen, bis er ins Hospiz kam. Mit Heinrich lebte sie lange Zeit zusammen, bis auch er vor einem Jahr starb. Getreulich berichtete sie mir in regelmäßigen Abständen, was sich ereignet hatte.
Und das hatte sie soeben auch getan.
 
„Ja“ sagte sie, „ich muß es Ihnen einfach erzählen: Ich habe mich wieder verliebt.“
„Donnerwetter. Wirklich. Donnerwetter. Seit wann?“
„Seit etwa vierzehn Tagen.“
 „Das ist doch wunderbar. Wie alt ist er? Und wie heißt er?“
Er heiße Gerhard, war Maschinenschlosser und fahre sogar noch Auto, manchmal auch mit Anhänger. Neunundsiebzig Jahre sei er alt
Neunundsiebzig! Ich wundere mich.
„Nächstes Jahr werde ich ja auch Neunundsiebzig“, sagte sie. „Nach Franz war ich ja dreißig Jahre mit Heinrich zusammen. Und jetzt kommt der Gerhard und es ist ein Gefühl, als würde man tanzen. Nee, nee, wie ist das komisch.“
Als würde man tanzen, denke ich. Unsere Freundin Jeanine, eine jugendlich wirkende Fünfzigerin, sagte doch kürzlich mit bedeutsamem Blick: „Einmal ist das vorbei.“
Mir war das sowieso klar, da ich sozusagen mehr wissenschaftlich orientiert bin. Daher weiß ich, daß alle diese Gefühle, die angeblich edel, erhaben, romantisch, schwärmerisch, ja selbstlos, sind, daß sie alle nur ein Ziel haben sollen, die endgültige Vereinigung. Da will man doch in meinem Alter nicht mehr mitmachen. Ist schließlich alles sehr peinlich.
Als würde man tanzen …
 
Und, überhaupt, was würde Brigittes erster, verstorbener Mann, der zwar roh, ungezogen und jähzornig war, aber immerhin für ein Leben mit ihr verbunden und vielleicht sogar ebenso im Himmel, was würde er dazu sagen?
Denn er hatte noch ein anderes Ich, ein Poeten-Ich, und in dem würde er vielleicht seine Lieblosigkeit bereuen. Ich habe hier noch die Gedichte liegen, die er mir gab:
 
Der Tod sitzt im gestreiften Sommeranzug
Und sieht dem Dichter zu.
Er liebt den Dichter.
Kommt, ihr Blüten des letzten Sommers.
Was warm ist. Was nicht ist, wird sein.
Die Trompeten schallen durch mein blaues Zimmer.
Wenn man dich ruft, wirst du dabei sein.
Du wirst den Tod nicht schmecken.
 
Ich habe ihn am Tage vorher besucht. Er hat ihn nicht geschmeckt. Er glaubte fest an Heilung.
 
Noch eines:
 
Schwester, wenn ich sterbe,
wird es in diesem Zimmer sein?
Nein, nein, sagte die Schwester. Sie werden
Nicht allein sein. Gott ist gut.
Der Dichter drehte sich auf die Seite.
 
Vielleicht wird er denken: Da war jemand, der bereit war, mit mir zu leben. Ich habe dieses Geschenk mißachtet.
 
Oder der Sohn? Richard! Die Eltern sind Eigentum der Kinder, und die werden unruhig, wenn sich ein völlig Fremder dazwischen drängen will.
„Richard?“ fragte Brigitte. „Der ist natürlich sauer. Mama, hat er gesagt, gehst du mit dem etwa ins Bett?“
„Darüber spricht man nicht, Richard, habe ich gesagt.“
„Das war richtig.“, sagte ich.
 
Brigitte hat vor einem Jahr von ihrem zweiten Mann Abschied nehmen müssen. Sie dachte immer schon praktisch. Bevor er starb, hatte sie mit ihm besprochen, was für eine Wohnung sie nach seinem Tod nehmen würde.
Plötzlich erscheint mir die Grenze zwischen Lebenden und Toten nicht mehr so undurchlässig. Sie wird nebelhafter, so wie sie mir erschien, als ich vor etwa siebzig Jahren meinen Freund manchmal an die Grenze zu Thüringen und damit zur DDR begleitete. Er besuchte drüben seine alten Bekannten und Freunde. Er wechselte von einer Welt in die andere, und die zweite kannte ich nicht.
 
Neunundsiebzig ist Brigitte. Und dennoch verliebt sie sich in einen Mann, der anscheinend zurückliebt.
Auch ich bin schon sehr alt. Donnerwetter, denke ich. Es gibt also in jedem Alter Möglichkeiten. Sieh einer an.
Aber es ist doch ziemlich anstrengend, vermute ich und seufze.
 
 
© 2017 Karl Otto Mühl