Der Ruf des Kirschkuchens

von Erwin Grosche

Foto © Dieter Schütz / pixelio.de

Der Ruf des Kirschkuchens
 
Gerade wollte ich Kaffee trinken. Ich hatte mir extra dazu einen Stück Kirschkuchen von Mertens geholt. Ich wollte mich verwöhnen und brauchte das Gefühl, daß mich jemand liebt. Der Kirschkuchen von Mertens ist so gemacht, daß man spürt, daß es Liebe auf der Welt gibt, und ich freute mich irrsinnig auf ihn. Der Kaffee war heiß, und der Kuchen lächelte mich an, da klingelte das Telefon. Paul Manne, ehemals Paderborn, nun Markdorf, war am Apparat und berichtete von seinem Heimweh. Ich habe ein Heimwehtelefon für Ostwestfalen eingerichtet, um erstes Aufkommen dieses schmerzhaften Gefühls sofort auffangen zu können. Ich war gerade beim Zuhören, als ich bemerkte, daß ich den Kirschkuchen von Mertens im Mund hatte und schon einen Bissen davon vernaschte. Paul Manne erzählte gerade, daß ihm so die Anteilnahme und das Mitgefühl der Ostwestfalen fehlen würde, als ich ihn abrupt unterbrach. Ich schämte mich so: „Es ist gerade etwas Schreckliches passiert“, sagte ich zu ihm.
     „Was ist denn?“, fragte Paul Manne erschrocken.
Ich kaute auf meinem Kuchen und traute mich nicht, ihn zu genießen.
     „Ich habe nicht widerstehen können“, sagte ich schluchzend. Ich habe gerade in den Kirschkuchen von Mertens hineingebissen, ohne es zu wollen. Es tut mir so leid.“
     Am anderen Ende der Leitung war es still. Ich sagte: „Ich habe zugehört, ich muß dann nur irgendwie in die Nähe des Kuchens gekommen sein, und dann ist es halt passiert.
     Da mußte Paul Manne lachen. „Das macht doch nichts. Bei uns gibt es auch gleich Kuchen. Ich wollte nur vorher eine ostwestfälische Stimme hören, damit er mir besser schmeckt.“
     Da war ich doch zufrieden. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich schwor aber, mich das nächste Mal wieder wie ein erwachsener Mensch aufzuführen, dem man Verantwortung übertragen kann. Wenigstens!
 
 

© Erwin Grosche