Tragikomik, die unter die Haut geht

Uraufführnug von Thomas Melles „Die Welt im Rücken“

von Renate Wagner

Joachim Meyerhoff - Foto © Reinhard Werners

Wien: Akademietheater des Burgtheaters
„Die Welt im Rücken“
nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Melle

Uraufführung
Premiere: 11. März 2017
 
Man kennt Thomas Melle, selbst wenn man seine Romane nicht gelesen hat. Das deutsche Feuilleton hat sich so ausführlich mit ihm beschäftigt, daß man ihm nicht entgehen konnte, zumal nach seinem jüngsten Roman „Die Welt im Rücken“, der erst letzten Herbst erschienen ist. Wenn Melle darin seine „bipolare Störung“ behandelt (früher als „manisch-depressiv“ bezeichnet), stellt sich natürlich die Frage, ob hier jemand für eine extrem sensationslüsternen Mitwelt seine geistige Krankheit vermarktet. Oder ob er, ganz legitim, eine extreme Menschengeschichte erzählt, wie es Romane und auch Autobiographien ja immer wieder tun…
 
Jedenfalls hat das Burgtheater Melles Roman in dramatisierter Form (wobei hier kein „Autor“ genannt ist, die „Verdächtigen“ wären Hauptdarsteller, Regisseur und Dramaturgin) auf die Bühne des Akademietheaters gebracht. Auch hier erklärt sich die Sinnhaftigkeit des Unternehmens nicht wirklich, es sei denn aus dem simpelsten und legitimsten aller Theater-Begründungen: Hier kann ein Schauspieler drei Stunden lang allein auf der Bühne stehen und sozusagen „alle Register“ ziehen.
Wenn es einen Schauspieler gibt, dem man es im Schlaf zutraut und der tatsächlich alles bietet, was man erwarten kann, dann ist es Joachim Meyerhoff. Und damit ist die Frage, ob man die Geschichte eigentlich wissen will, auch schon beantwortet – zumindest in einer nach Schauspielern so süchtigen Stadt wie Wien.
Thomas Melle, Jahrgang 1975, war sozusagen „immer schon“ Schriftsteller. Er hat das Recht zu fabulieren, zu dichten. Aber der riesige Erfolg von „Die Welt im Rücken“ geht wohl darauf zurück, daß er hier den Eindruck der totalen Authentizität erweckt. Das, was die so genannten „Normalen“ nicht wissen können (glücklicherweise, müßte man sagen), er berichtet es – von einem Leben zwischen Wahn und Wirklichkeit, wo einem periodisch der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Dann bildet man sich unverrückbar fest und überzeugt ein, man habe mit Madonna geschlafen und sei mit Picasso am Klo zusammengetroffen. Das merkt man sich als Zuschauer, weil es an berühmten Namen festgemacht ist. Andere Schilderungen des Wahns „ziehen“ sich ebenso wie jene der dumpfen Depression, wo man dann in der Nervenklinik „auf gar nichts“ wartet…
Glücklicherweise nimmt der dreistündige Abend gegen Ende an Fahrt auf, wenn er schildert – und das wird nun zur brillanten Parodie des Theateralltags -, wie Melle in Erlangen ein Stück erarbeitet hat, wobei er die Schauspieler und die Schauspieler ihn offenbar gegenseitig wahnsinnig gemacht haben. Danach: wieder in die Klinik. Wieder die Koketterie mit dem Selbstmord. Und wieder die Entschlossenheit, auch das nächste Mal durchzuhalten, wenn die Krankheit mit einem ihrer unausweichlichen Schübe kommt…
 
Ein Drei-Stunden-Monolog. Auf der Bühne zu Beginn ein Tischtennis-Tisch. Die kleinen weißen Bälle werden zu Mitspielern des Akteurs. Für diesen muß sich Regisseur Jan Bosse eine Menge einfallen lassen, und er tut es. Er beschmiert ihn mit Blut. Er läßt ihn auf einen Kopierapparat legen und Teile seines Körpers (Genitalien inbegriffen) ablichten, diese Kopien in Kreuzform an der Wand anbringen, sich selbst als Jesus stilisieren. Das erinnert übrigens daran, daß man Joachim Meyerhoff vor nun auch schon wieder einem Dutzend Jahren als „Jesus“ in „Wir wollen den Messias jetzt“ von Franzobel (2005 im Akademietheater) erstmals in Wien gesehen hat…
Dafür, daß der Protagonist alles selbst hin- und herräumen muß, bietet die Bühne von Stéphane Laimé einiges zu schauen (und die Kostüme von Kathrin Plath sorgen dafür, daß Meyerhoff von Zeit zu Zeit immer anders aussieht, und sei es nur durch grelle Kapuzenjacken): Am Ende – „man muß sich auch helfen lassen“, beschließt er und ruft die Bühnenarbeiter, die ihre Arbeit tun und ihn total ignorieren – kommt eine undefinierbare amorphe Riesenmasse auf die Bühne, das Torso eines Fisches? Ein monumentaler Schlangenkopf? Eine perverse „Wolke“? Was immer. Wenn der tragische Held zum Finale darin versinkt und innen herumkriecht, einen Ausgang suchend, ist die optische Gleichnishaftigkeit voll hergestellt.


Foto © Reinhard Werners
 
Aber obwohl die Regie ihn ausreichend beschäftigt, um die drei Stunden (deren Zähigkeit dennoch nicht abzuleugnen ist) einigermaßen aktionsreich vorbeiziehen zu lassen, liegt die Verantwortung des Abends doch allein bei Joachim Meyerhoff, wobei man gar nicht an die Textmassen denken will, die es da zu bewältigen gibt. Optisch auf Anhieb nicht zu erkennen (woran eine seltsame Frisur, nicht Locke, nicht Krause, auf jeden Fall sehr fremd wirkend, großen Anteil hat), kommt er zu Beginn fast „normal“ auf den Zuschauer zu – er erzählt von seiner Faszination fürs Lesen, für Bücher. Aber wenn er berichtet, daß er in manischen Abschnitten seines Lebens seine Bibliothek verkauft und verschleudert hat, dann gleitet man mit ihm schon in die Krankengeschichte, vielmehr in die abschüssigen Regionen seines Geistes. Wobei die Analyse, die er abliefert, die Kenntnisse eines Gesunden sind, der noch genau weiß, wie es war, sich in diesem „anderen“ Zustand zu befinden…
Meyerhoff hat die Fülle an Nuancen, ohne jemals theatralisch aufzudrehen und penetrant zu werden, obwohl er in hohem Ausmaß mit dem Publikum, ins Publikum hineinspielt. Aber die Tragödie knallt er nicht hin. Stets bleibt ein Rest von Humor. Tragikomik, wie sie unter die Haut geht. So gab es am Ende die oft zitierten, aber selten wirklich passierenden „Standing Ovations“ – auch für den Autor, der beim Verbeugen schüchtern aus großen Augen in den Zuschauerraum blickte…
 
Renate Wagner

Eine Übernahme aus dem Online-Merker, Wien mit freundlicher Erlaubnis der Autorin