Auch der Mörder wird erlöst…

Hartmut Lange – „Die Waldsteinsonate“

von Frank Becker

Umschlag: René Magritte,  L´empire des lumières
Auch der Mörder wird erlöst…
 
Gestern habe ich Ihnen hier den jüngsten Gedichtband Franz Hohlers vorgestellt, der sich explizit mit dem Alter und dem Ende des Lebens beschäftigt. Heute habe ich Gelegenheit, Sie mit dem ersten Erzählband von Hartmut lange bekannt zu machen, der 1984 erstmals im Diogenes Verlag erschienen ist und nun eine Neuauflage erlebt, die, notabene, unbedingt notwendig war, gehören doch Hartmut Langes Miniaturen zum Besten, was die deutsche Sprache und Literatur des 20. Jahrhunderts vorzuweisen hat. Die Brücke zu Franz Hohlers Buch ist die Beschäftigung mit dem Ende der menschlichen Existenz, dem Abgleiten in den Wahnsinn, mit dem Tod. Es ist Hartmut Langes Kernthema.

Die fünf Novellen erzählen von Friedrich Nietzsches Wahnsinn, dem sinnlosen Tod der Goebbels-Kinder von der Hand der Mutter Magda im Bunker unter der Reichskanzlei, vom geheimnisumwitterten Freitod Heinrich von Kleists und der mit ihm befreundeten Henriette Vogel, von Alfred Seidel, dem heute vergessenen Nihilisten, der mit 28 Jahren in einer Erlanger Nervenklinik von eigener Hand endete, und die letzte, vielleicht bewegendste, läßt nach ihrem Tod eine ermordete Jüdin mit ihrem Mörder, einem nun auch getöteten SS-Mann, zusammenfinden. Viermal nennt Lange Namen, läßt reale Personen auftreten, durch deren Augen er auf ihr eigenes Schicksal schaut und nimmt den Leser so nah mit, daß er an ihrem unausweichlichen Untergang beinahe körperlich teilnehmen muß.
Hartmut Lange, spürt man, ist tief in die Seelen derer, die er mit seinen Texten begleitet, eingetaucht, ist sie geworden. In „Über die Alpen“ (Nietzsche), „Im November“ (Kleist(Vogel) und (Alfred) „Seidel“ behandelt er die fatalen Entwicklungen beinahe nüchtern, wie ein Chronist. Die beiden hoch emotionalen anderen Erzählungen „Die Waldsteinsonate“ und „Die Heiterkeit des Todes“ greifen ans Herz, gehen tief ins Gemüt. In der „Waldsteinsonate“ läßt er den toten Franz Liszt eine mystische Zeitreise in die letzten Stunden des „Führerbunkers“ antreten, mit dem Plan, den Tod der sechs unschuldigen Kinder des verblendeten NS-Propagandaministers und dessen fanatischer Frau durch die beruhigende Wirkung der Musik zu verhindern. Auf dem von Mörtelstaub bedeckten Klavier, das er im Bunker findet, spielt Liszt beschwörend Ludwig van Beethovens „Waldsteinsonate“, um Magda G. von der grausamen Tat abzuhalten. Man weiß um die schreckliche Wirklichkeit, bebt aber dennoch um die unschuldigen Seelen.

Einer Revolution kommt das Schlußstück gleich. In „Die Heiterkeit des Todes“ öffnet Hartmut Lange in einer Traumvision den Blick auf das schier unmöglich Erscheinende. Er folgt am winterlichen Grunewaldsee dem Spaziergang eines Paars, das es nicht geben darf. Sie ist eine junge Jüdin mit dem Schandmal des Judensterns am Mantel, die Spuren der tödlichen Verwundung deutlich sichtbar im Nacken, er ist ein athletischer SS-Mann in der schwarzen Totenkopf-Uniform der Mörder. Auch er kommt spür- und sichtbar aus dem Schattenreich zurück, um hier sein Opfer zum zärtlichen Miteinander treffen. Lange erzählt das Unmögliche mit soviel Zartheit, ja Liebe, daß es den Leser zutiefst berührt. „Auch der Mörder wird erlöst“ und „Und wann, mein Herr, wenn nicht im Tod, soll die Schuld, die wir am Leben haben, endlich einmal beglichen sein?“ sind Sätze, die ich ebenso wenig vergessen werde wie die zunächst unfaßbare Konklusion „Sehen Sie, mein Herr“, sagte er, „was für eine Frau! Sehen Sie“, sagte er, „hätte ich sie nicht getötet, ich hätte sie nie kennengelernt, und sie ist die Einzige, die mir verzeiht.“ Die knapp acht Seiten dieser Erzählung erschüttern mehr als ein großer Roman.
 
Leider habe ich den Fehler gemacht, Sebastian Kleinschmidts brillantes Nachwort zu lesen, bevor ich die Feder in die Hand genommen habe, um über das Buch zu schreiben. Was nämlich Kleinschmidt höchst sensibel über die Erzählungen, ihre dramatis personae und ihre Wirkung sagt, trifft jedes Stück auf den Punkt. Es bleibt mir, mich ihm anzuschließen und unseren Lesern dieses Buch sehr zu empfehlen.
 
Hartmut Lange – „Die Waldsteinsonate“
Fünf Novellen
© 1984 / 2017 Diogenes Verlag, 130 Seiten, Ganzleinen, mit Schutzumschlag - Mit einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt – ISBN 978-3-257-06992-1
20,- € / 27,- sFr
 
Weitere Informationen:  www.diogenes.ch