Ein Kunstwerk und ein Denkanstoß ohnegleichen

„Silence“ von Martin Scorsese

von Renate Wagner

Silence
(USA 2016)

Drehbuch und Regie: Martin Scorsese
Mit: Andrew Garfield, Adam Driver, Liam Neeson, Ciarán Hinds u.a
 
Irgendwo herrscht das Grauen in diesem Jahr 1633, Menschen werden gekreuzigt. Eine Stimme aus dem Off wird zu einem Brief, der in Rom, im Vatikan, vorgelesen wird. Ein Händler hat ihn gebracht, und er besagt, „daß Vater Ferreira für uns verloren ist“. Der Jesuit, einst aufgebrochen, den christlichen Glauben in Japan zu verbreiten, hat angeblich abgeschworen. Das können, das wollen sie nicht glauben – Pater Sebastião Rodrigues und Pater Francisco Garrpe, zwei junge Jesuiten, Schüler des verehrten Mannes. Was bedeutet es, wenn das wahr ist? Sie müssen gehen und ihn finden…
 
Regisseur Martin Scorsese, einer von Hollywoods Spitzenregisseuren, Spezialist für so vieles, ob Mafia oder Wall Street, Thriller oder Historisches, war in seiner Jugend selbst in einer Jesuitenschule. Das historische Thema um den Versuch, Japan zu missionieren (Pater Cristóvão Ferreira, 1580-1650, gab es wirklich), hat ihn seit Jahren so fasziniert, daß er diesen Film drehen „mußte“. Glücklicherweise. Er ist bei aller Grausamkeit, die hier gezeigt wird, einer der tiefsten Eindrücke, die man seit langem von der Leinwand herab empfangen hat.
Es könnte ein „Abenteuerfilm“ sein, voll von billigen Spekulationen. Nichts ist Scorsese (sein eigener Drehbuchautor nach dem Roman des Japaners Endō Shūsaku) ferner. Gewiß, die beiden jungen Jesuiten reisen verkleidet in ein mystisches, nebeliges, regnerisches, bedrückend und faszinierend gefilmtes Japan, treffen auf heimliche Christen, wissen aber nicht, wem sie trauen können, da die japanischen Machthaber diese fremde Religion gnadenlos verfolgen, Katholiken foltern, zum Abschwören bringen oder brutal hinrichten. Und doch sehnt sich diese Gesellschaft im Untergrund nach nichts so sehr wie nach Priestern, denen sie beichten und von denen sie Absolution empfangen können.
Immer wieder fragen die beiden jungen Priester nach Pater Ferreira, verteilen die Perlen ihres Rosenkranzes, erleben grauenvolle Szenen dieses Glaubenskrieges und stoßen letztendlich selbst mit den Machthabenden zusammen, die einen „Inquisitor“ mit dem Problem betraut haben (wie die Europäer bei ihren Glaubenskriegen auch…) Und dennoch wird den „anderen“ nicht die Rolle der problemlos „Bösen“ zugeschoben. Sie erhalten auch eine Stimme, dürfen ihren Standpunkt klarlegen, sehen nicht ein, warum sie sich von dieser fremden Religion ihr eigenes System unterminieren lassen sollen (mit der freien Meinungsäußerung und Glaubensausübung hatte man es im 17. Jahrhundert noch nirgends so richtig auf der Welt…): Das Christentum habe für sie keinen Sinn und keinen Wert, heißt es, es sei einfach eine Gefahr, die ausgemerzt gehört…
 
Muß man für den Glauben schier unglaublich (unter der Folter) leiden, muß man dafür grauenvoll sterben oder ist das Leben doch der Güter Höchstes? Darauf läuft dieser Film hinaus, ohne daß er mehr an „dramatischer“ Handlung böte als die Situationsschilderung von Verzweiflung und exzessiv auf die Leinwand gebrachten Grausamkeiten, so daß man sich fragt, welche Religion es wert sein kann, dermaßen zu leiden.
Schließlich erlebt einer der Padres, Rodrigues, am eigenen Leib, was es bedeutet, hier unentrinnbar selbst in die Maschinerie zu geraten, eingesperrt in einen Käfig, sein Schicksal immer in Zusammenhang gebracht mit Menschen, die grauenvoll für ihn sterben müssen, wenn er nicht abschwört. Und so tut er es, wie Pater Ferreira es getan hat, mit dem er einmal kurz zusammen treffen darf… und der nun für den japanischen „Inquisitor“ arbeitet. Weil er begriffen hat, daß die Denkungswelt der Japaner so anders ist, daß das Christentum für sie, die Söhne der Sonne, nicht wirklich zu begreifen sei.
Wie alle, die abschwören, muß auch Rodrigues auf ein Bild von Christus treten (nein, Gott schweigt nicht, scheint nicht Christus vom Kreuz herab ihm zu sagen: Mach es, es ist in Ordnung, tritt auf mich!?). Noch tragischer als alles, was man an Brutalitäten Menschen gegenüber erlebt hat, sind die letzten Szenen, die ihn als den angeblich Bekehrten, mehr noch: als Vorzeige-Bekehrten der Herrschenden zeigen: Wie ein Zombie lebt er nach Vorschrift mit einer Ehefrau, die man ihm aufgezwungen hat, nicht den kleinsten Hinweis auf sein ehemaliges Priestertum darf es geben (denn jeder, der ihn diesbezüglich anspricht, könnte ein Agent provocateur sein). Man erfährt nicht, was er denkt, denn er zieht sein Weiterleben bewegungslos durch: Rodrigues und Ferreira sitzen in japanischen Gewändern zusammen, die abtrünnigen Priester.
 
Am Schluß erzählt ein holländischer Händler vom Ende des zum Japaner gewordenen Rodrigues, den die Kamera bis in den Behälter verfolgt, in dem seine Leiche verbrannt wird: Hat ihm seine Frau da noch ein winziges Kreuz in die Hände geschmuggelt? Was die Holländer berichten können, besagt nur, daß der Buddhist Rodrigues mit dem christlichen Glauben nichts mehr zu tun hatte…
Wenn Scorsese im Nachspann dieses Werk auch den japanischen Christen und ihren Priestern widmet, so hat er doch keinen frommen, keinen triefenden, keinen sentimentalen Film gedreht. Man würde ihn nicht einmal für ein Plädoyer für den Katholizismus halten. Es ist die Darstellung einer historischen Situation, einer von vielen in der Geschichte, wo die Religion unendliches Leid über die Menschen gebracht hat. Es ist ein Beitrag zum ewigen Thema der Rolle der Religion im Leben der Menschen. Es ist ein Meisterstück.
Andrew Garfield ist der junge Jesuit, der den langen, schweren, düsteren Weg mit so viel ruhiger Selbstverständlichkeit geht, daß er heute (immerhin liefert er eine ähnlich starke Leistung in Mel Gibsons „Hacksaw Ridge“) einer der bemerkenswertesten jungen Schauspieler Hollywoods ist (der den „Spiderman“-Unsinn weit hinter sich gelassen hat).
Adam Driver ist sein Gefährte, der ihm in Japan im Lauf der dramatischen Ereignisse verloren geht, Liam Neeson der konvertierte Jesuit, der – ohne den geringsten Zynismus – nicht erklären und entschuldigen kann, was er getan hat, Ciarán Hinds der kopfschüttelnde Kapazunder im Vatikan, und eine Reihe japanischer Schauspieler liefern ebenfalls eindrucksvolle Leistungen.
 
Aber der Film ist ein Gesamtkunstwerk – die Geschichte, die Atmosphäre, das Land, die wie selbstverständlich hingestellten und teils schier unvorstellbaren Grausamkeiten, die sich in dieser Welt begaben, und mittendrin die einzelnen Menschen. Tief durchatmen – schwer auszuhalten und nie wieder aus dem Kopf zu bekommen. Ein Kunstwerk und ein Denkanstoß ohnegleichen. Nein, keine „Oscar“-Nominierung: kein bester Film, kein bester Regisseur, gerade einmal die beste Kamera. Weiß der Himmel, warum. Zu heikel?
 
 
Renate Wagner