Weihnachten bei Kriegsgefangenen in Afrika

Ein Romanfragment

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Weihnachten bei Kriegsgefangenen
in Afrika
(ein Fragment)
 
 
Es kam das Weihnachtsfest 1942. Der deutsche Lagerführer sprach zu den im Großzelt versammelten Gefangenen. Vom Roten Kreuz gespendete hellbraune, geprägte Lederbrieftaschen wurden verteilt. Die Prägung zeigte ein Kamel mit Palmen. Dann wurde ein Weihnachtslied gesungen.
 
Caspers hatte angefangen, stolz auf seine Besieger zu sein. Ihre riesigen Schiffe durchfuhren die Weltmeere, ihre Garnisonen waren in Afrika, Nahost, Mittelost, Indien, Südamerika. Ihre jungen Leute konnten überall in der Welt etwas werden. Das wollte Caspers auch gerne.
 
***
 
Am nächsten Morgen erwachte er, und mußte sich langsam daran erinnern, daß er in einem Zelt, auf einer Wolldecke auf sandigem Boden in der ägyptischen Wüste lag.
 
Das ganze Camp erwachte langsam, der Sinai reckte sich empor, das Blau des Morgenhimmels wölbte sich unbewegt über Freunden und Feinden. Hier und da traten schon Gefangene aus den Zelten, in denen sie zu je zehn Mann schliefen.
Zunächst ist da nichts außer Glanz und Licht, als er aus dem Zelteingang blinzelt, und dann Töne, von überirdischer Süße und Sanftheit, sie schweben im Licht wie tönendes Silber, und schön wäre es, wenn alles so bleiben könnte, vielleicht sogar in dem Falle, daß er schon nicht mehr lebte, was ja tatsächlich sein könnte, meinte Caspers in diesem Augenblick in einem beinahe unwirklichen Zustand.
 
Drüben, über dem Meer, wo er über die hellbraunen Inselchen der Ägäis hinweg geschwebt war, da liegt die Heimat, da fließt die Waldnab. Wie leicht das Leben dort sein wird! Immer noch war er weniger als ein Sandkorn, er war ein Nichts in einem Gefangenenlager in der Wüste, und doch schwebte er nun auf den Seidenflügeln des Gesangs, der mehrstimmig aus einem der Zelte drang, hin zu allen, denen er sich nahe fühlte:
 
 
Grüßt mir die Reben, die Reben, Vater Rhein,
grüßt mir die Reben, grüßt mir die Reben.
Was wär die Liebe, die Liebe, ohne Wein,
grüßt mir die Reben, Vater Rhein.
 
All meine Träume, meine Träume sind ja dein,
du ewig, ewig schöner deutscher Rhein.
 
Als Caspers zu Seite blickte, sah er, daß die Augen von Hans feucht geworden waren. Auch er war durch das Lied wach geworden. Caspers dachte, daß die liebevolle Nähe zu Eltern und Freunden, die er in diesen Augenblicken verspürt hatte, so vielleicht erst in der Todesstunde wiederkehren würde.
 
Jetzt, am Morgen in der Oberpfalz daheim, erwachten seine Leute. In der Nacht waren sie mit Laternen zur Christmette durch verschneite Hohlwege gestapft, aus der Klosterkirche neigte sich sanfte demütige Maria über sie, der Wind weinte auf dem verschneiten Friedhof vereint mit dem Abschiedsschmerz von Generationen über den Gräbern.
 
***
 
Es hieß, sie würden nach Kriegsende für viele Jahre zur Zwangsarbeit an Länder, die Deutschland überfallen hatte ausgeliefert. Das war ein Gerücht, das unter den Gefangenen kursierte.
Caspers hielt es für glaubhaft. Alle Zukunftshoffnungen fielen in ihm zusammen, denn er glaubte bereits jetzt nicht mehr an einen deutschen Sieg.
 
Ihm fiel ein Krankenhaus-Aufenthalt vor Jahren ein. Er lag im Krankenbett, die Untersuchungen hatten mehrere Tage gedauert. Dann trat nach der der Arzt ein, mit freundlichem, sonnigen Gesicht. Die Untersuchungen hätten keinerlei pathologischen Befund ergeben, es sei sozusagen alles in bester Ordnung.
So etwas wird hier nicht passieren. Ein Kommandeur, der vor den stummen Kolonnen der angetretenen deutschen Gefangenen erscheint, dem achtungsvoll die Vollzähligkeit der Schicksalsergebenen vor ihm gemeldet wird, der ihnen das Überleben und die Freiheit verkündet, der ist nicht zu erwarten.
Sommer-Licht floß herab, der Himmel hatte sich aufgehellt. Und unmerklich strömte mit dem Licht stille Hoffnungslosigkeit herab, die Gedanken und Gegenstände mit scharfen Konturen versah. Aber in seinem Inneren schien sich die Hoffnungslosigkeit allmählich in Hoffnung zu verwandeln, eine Hoffnung, die nur aus Licht bestand, das sich mit der Wüsten-Sonne vermischte. Er wusste, es ist eine Hoffnung ohne Inhalte; Inhalte sind immer von Menschen gemacht, sie begleiten ihn nur bis zur Wegebiegung.
 
Dann hieß es plötzlich, man müsse sich zum Abtransport bereitmachen. Hunderte von Gefangenen traten an, aber der Abmarsch verzögerte sich. Einer fehlte.
 
Erst nach Stunden wurde der Gefangene gefunden. Er hatte sich in dem Erdhaufen unter der Freilichtbühne versteckt, wollte bleiben. Wahrscheinlich fürchtete er, an einen schlimmen Ort geschickt zu werden.
 
Aber das Ziel war Amerika. San Francisco. Vor und hinter Caspers standen und tapsten Hunderte von deutschen Kriegsgefangenen auf dem endlos langen, schmalen Laufsteg, das blaue Meer unter gleißender Sonne unter sich – sie tapsten vom Schiff hinüber zum Kai. Das war San Francisco. Ich bin in San Francisco, hört Ihr daheim, ich bin hier.
In ganz kurzen Abständen wurde der Zug der Gefangenen von amerikanischen Soldaten flankiert. Sie hielten die Schnellfeuergewehre mit gesenktem Lauf vor sich, Neugierige schauten aus kurzer Entfernung zu.
Aber es ging schon weiter. Die deutschen Gefangenen traten nacheinander in eine Baracke, in der sie von Ärzten und medizinischem Personal, viele schwarze GI´s darunter, erwartet wurden. Sie legten die Kleider ab, wurden nackt mit Desinfektionsmittel besprüht, bekamen G I-Baumwolluniformen, Wäsche, alles neu, Ersatzunterwäsche, Rasierzeug, Nachthemd; und alles stopften sie in ihre Seesäcke, kamen erneuert am Ende der Baracke heraus, erkletterten die hölzernen Stiege an einem Bahndamm, kletterten in bereitstehende Pullman-Waggons, betraten zaghaft – je vier Mann – rotgepolsterte Abteile – rieben sich die Augen. Ein schwarzer Kellner im weißen Jackett erschien und servierte Kaffee und bot Orangen an. Noch immer blickten die Gefangenen fassungslos...
Die Stunden vergingen staunend. Dann ruckte der Zug an, stampfte tagelang durch eine unendliche Landschaft. Dies war Amerika.
 

Ein Fragment aus dem Romanprojekt „Caspers“
© 2008 Karl Otto Mühl