Die proletarische Provinz in der Weimarer Republik

Alexander Graf Stenbock-Fermor – „Deutschland von unten“

von Jürgen Koller

Deutschland von unten

Ein baltischer Graf bereist Deutschland –
Berichte über das Elend in der deutschen Provinz
 
Dankenswerterweise hat der vbb-Verlag (Berlin/Brandenburg) vor einigen Wochen das Buch „Deutschland von unten“ - Reise durch die proletarische Provinz - aus dem Jahre 1931 neu herausgegeben. Alexander Graf Stenbock-Fermor hatte seine erschütternden Reportagen über das Elend, die Armut und den Hunger in den deutschen Provinzen in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise geschrieben. Diese Zeugnisse katastrophalen proletarischen Elends im hoch entwickelten Deutschland hatte der Autor seinerzeit von verschiedenen Fotografen dokumentieren lassen. Der Graf bereiste das Frankenland mit seinen letzten Hauswebern und arbeitslosen Flößern, sprach mit Spielzeugmachern und Holzarbeitern des Erzgebirges, aber auch mit Bergleuten im niederschlesischen Waldenburg und mit Webern im Eulengebirge, besuchte die Puppenmacher und Glasbläser im Thüringer Wald, die Kohlekumpel in Duisburg und die Arbeiter in Leuna sowie die proletarischen Bewohner Berliner Gartenlauben-Kolonien. „Überall, wohin ich kam, steigendes Elend, steigende Verbitterung, steigende Verzweiflung. Eine Welt der Armut und des Hungers und der Ausbeutung. Ich lernte Deutschland von unten kennen.“
Das Buch fand im Jahre 1931 große Resonanz, obwohl es etwa von Kurt Tucholsky oder von Egon Erwin Kisch gleichzeitig ähnlich bemerkenswerte Reportagen über das elende Los der Heimarbeiter und Fabrikarbeiter gab. Die Vossische Zeitung als Kopf-Blatt des Ullstein-Konzerns sprach von einem „furchtbare[n] Reiseführer durch das Elend: Heimarbeit, Kinderarbeit, 16stündige Schufterei für Pfennigverdienste“. Der sozialdemokratische Vorwärts hob die „streng objektive und sachliche Darstellung“ hervor. Selbst im nationalsozialistischen Völkischen Beobachter schrieb ein anonymer Rezensent, daß man „Dank wissen [müsse] für die nüchterne, sachliche und klare Art“, um aber gleich hinzu zu fügen, daß nur der Nationalsozialismus die Arbeiter von diesem Dreck befreien und zur Zukunft führen könne. Nach der NS-Machtübernahme wurde das Buch des Grafen Stenbock als marxistische Propaganda sofort verboten.
 
Es sind drei gewichtige Aspekte, die die elende Situation der ausgebeuteten Heimarbeiter am unteren Ende der deutschen Wirtschaft bestimmten und auf die der adlige Autor immer wieder verweisen mußte: die handwerkliche Struktur der Heimarbeit, sei es das Weben, das Sticken, die Holzbearbeitung, das Puppenmachen oder Glasblasen, war durch die industrielle Produktion längst überholt, dazu kam das berüchtigte 'Verlegerprinzip', das bedeutet, der Verleger liefert das Roh-Material, bestimmt dessen Preise und der Heimhandwerker kann nur an 'seinen' Verleger liefern und dieser legt dann auch die Preise für die fertige Ware fest. Es gab zwischen den Produzenten keinerlei solidarisches Denken und Handeln, im Gegensatz zu den Industriearbeitern. Denn um an die Aufträge zu gelangen ( - und um zu überleben), unterbot er seinen Mitbewerber und drückte so die Preise. Diese Form der Ausbeutung führte zu geringsten Löhnen (- oft unter Tarif), zwang zu Kinderarbeit, führte zur Selbstaufgabe und zur Lethargie. Gerade die Heimweber, so sie nicht eine windschiefe Kate besaßen, mußten oftmals bei Bauern als 'Einleger' wohnen und arbeiten – Großfamilien hausten, arbeiteten, schliefen und liebten in einem Raum. Tuberkulose, Rachitis, Geschlechtskrankheiten, Unterernährung bei den Kindern waren die Geiseln der Armen , das Fehlen einer jeglichen Intimsphäre führte oftmals zur sittlichen Verrohung dieser Menschen. Darauf nahmen übrigens die Kirchen beider Konfessionen kaum Einfluß. Der Pauperismus als Ausdruck massenhafter Verelendung und die Ausbeutung der Ärmsten der Armen führte bereits 1844 zum schlesischen Weberaufstand, der von Preußens Militär blutig niedergeschlagen wurde. Das Drama „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann (1894) und der Grafikzyklus „Ein Weberaufstand“ von Käthe Kollwitz (1894/98) erinnern an diese Protest- und Hungerrevolte. Elend und Armut wurden maßgeblich durch diese andauernde, nicht vorstellbare Wohnungsnot geprägt. Solch eine Situation findet sich bei den Webern im Frankenwald und im Eulengebirge, ebenso im Thüringer Wald. Besonders schlimm war auch die Wohnsituation der Bergleute im niederschlesischen Waldenburg. Auf Grund der schwierigen geologischen Bedingungen und der mangelhaften Infrastruktur drückten die Zechenbesitzer die Löhne auf tiefstes Niveau, um auf dem deutschen Kohlemarkt mithalten zu können. Die Waldenburger Kumpel hatten die niedrigsten Löhne aller deutschen Kohlenreviere bei gleichzeitig höchster Unfallquote.

Interessant ist es, den Weg Alexander Stenbeck-Fermors aus baltischem Adel zum „roten Grafen“, wie er später achtungsvoll genannt wurde, zu verfolgen. Geboren 1902 in der Nähe von Riga, entstammte er einem alten livländisch-schwedischen Geschlecht, das im frühen 19. Jahrhundert vom russischen Zaren geadelt wurde. Nach der bolschewistischen Revolution schloss sich der Graf mit 17 Jahren der Weißen Garde an und kämpfte mit Balten, Letten, Russen, Briten, alle in deutschen Uniformen und mit englischen Waffen, gegen die bolschewistische Rote Armee – ein grausamer Krieg, so beschreibt es der Graf – es wurden auf beiden Seiten keine Gefangenen gemacht. Nach dem Ende des Kriegs im Baltikum und dem Verlust der Güter gingen seine Eltern ins Deutsche Reich und ließen sich in Neustrelitz nieder. Stenbock folgte, als er das Abitur nachgeholt hatte, dem Rat einer Lehrerin und arbeitete ein Jahr unter Tage in einer Kohlenzeche in Duisburg. Die Erfahrungen mit den Kumpeln unter Tage, vor allem deren Solidarität bei der gefährlichen Arbeit, aber auch deren kommunistisches Gedankengut ließen Stenbock-Fermor die politischen Seiten wechseln – er sympathisierte von da an mit den Kommunisten, ohne je in deren Partei Mitglied zu werden. Sein Berufsweg als junger Mann war äußerst unstet: nach dem Jahr als Bergmann lernte er Buchhändler, tourte als Puppenspieler übers Land, arbeitete als Privatbibliothekar und verdingte sich auf einem Landgut im Brandenburgischen. Nebenher begann er zu schreiben, literarisch und journalistisch. Auch trat er als Agitator vor den Bergleuten seiner alten Zeche im Ruhrpott auf. Er wirkte zwar glaubhaft, ob seiner Arbeit im Schacht, aber im Buch „Deutschland von unten“ spürt der Leser doch die aufgesetzte, platte kommunistische Propaganda. Trotz gewisser Einwände ist Stenbock-Fermors Buch lesenswert, gibt es doch als historisches Zeitdokument auch heute noch über die elenden Zustände in der proletarischen Provinz Deutschlands am Ende der Weimarer Republik erschütternde Auskünfte.
 
Alexander Graf Stenbock-Fermor – „Deutschland von unten / Reise durch die proletarische Provinz“
(Hrsg. von Erhard Schütz, Christian Jäger)
 
© 2016 Verlag Berlin-Brandenburg vbb (Erstausgabe 1931 unter gleichem Titel im Verlag J. Engelhorn Nachf., Stuttgart) 240 Seiten, 62 Abbildungen, Hardcover ISBN: 978-3-945256-52-7
€ 22,00 (D) / € 22,60 (A)