Was Sibylle uns noch sagen wollte

Sinnfragen

von Lars von der Gönna

© Heiko Sakurai
Was Sibylle uns noch sagen wollte
 
Auf einem großen Weihnachtsmarkt habe ich eine Frau gesehen, die die Zukunft aus der Hand las. „Du groß Glück noch wirst haben“, wisperte sie einer Dame zu, an deren Mantel noch etwas Zuckerwatte hing. Was die Dame geantwortet hat, habe ich nicht genau verstanden. Es klang aber so wie „Für 5 Euro kann man das ja wohl auch erwarten.“ Die Kunst der Wahrsagerei ist ein Faszinosum. Sie läßt mich nicht los. Und je näher man ihr kommt, desto besser weiß man: Wahrsagerei ist nicht gleich Wahrsagerei. Manche pulen im Kaffee, andere fragen die Sterne. Doch die S- Klasse der Branche, das darf ich als Kenner verraten, ist der Typ der Sibylle. Das Besondere dieses Modells (von Cumae bis Delphi): Sie sagt auch was, wenn man sie überhaupt nicht gefragt hat.
Manchmal dachte ich, ob meine Mutter eine Sibylle ist, obwohl sie Doris heißt. Die sagte früher oft, ohne daß ich gefragt hätte: „Junge, mit dir wird et noch schlimm enden!“ Ja - und bisher ist nichts gegen ihr Orakel einzuwenden. Frauen scheinen die Gabe ohnehin stärker in sich zu tragen. Wie oft haben sie tief in meine Augen geschaut und gesagt: „LvG, mit uns wird dat nix!“ Andere hörte ich zischen: „Das wird dir noch leid tun!“ Dritte wiederum sprachen zu mir mit glasigen Augen und schwerer Zunge: „Was gleich passiert, werden wir beide morgen früh bereuen.“ Sie alle sollten recht behalten.
Überhaupt stellt sich mir die nicht unberechtigte Frage: Kann man eigentlich sein eigener Wahrsager sein? So hörte ich jüngst auf einem Fest einen hochbetrunkenen Mann rufen: „Meine Herrn, gleich fall ich auf die Fresse!“ Sekunden später sahen wir: Er lag völlig richtig.
 
 

© Lars von der Gönna - Aus dem Buch „Der Spott der kleinen Dinge“
mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Henselowsky Boschmann und der WAZ.