Andreas Steffens Zeit, zu verschwinden oder Janet Riedels Fotozyklus "Erinnerungen aus der Gegenwart"
In diesem Jahr wird unsere Erinnerungskultur zum ersten Mal nicht von Ereignissen der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts beherrscht werden: die Erinnerung an den sich zum vierzigsten Mal jährenden Mai ’68 und dessen Folgen wird zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte den Ursprung dieser Erinnerungskultur selbst zum Gegenstand haben: den Aufstand der Söhne und Töchter gegen die Ignoranz ihrer Väter und Mütter gegen die von ihnen angerichtete, zugelassene oder erduldete Geschichte der Menschheitskatastrophen. ‚1968’ steht für eine Politisierung der Kultur und der Künste als Reaktion auf eine ausgebliebene ‚Vergangenheitsbewältigung’. Sie wurde dann umso intensiver nachgeholt, und ist heute fester Bestandteil unserer offiziellen Kultur. Man muss sich vergegenwärtigen, daß die Ausläufer und Spätformen dieser Gewaltpolitik am Menschen in der DDR bis 1989 nachwirkten. Deren Regime war bis zum Machtantritt Honneckers stalinistisch.
In den dreißiger Jahren entwarf der Dichterphilosoph Hermann Broch eine Ästhetik der Kultur als Versuch, Geist und Lebensgehalt einer Epoche bestimmbar zu machen. Verdichtet fand er sie besonders in ihrer Architektur. Kurz darauf bestätigten die totalitären Regime diesen Gedanken durch Verwirklichung in ihren gigantischen Repräsentationsbauten. Spät bekam auch die DDR ihren Teil davon noch ab. In Berlin ließ Ulbricht die Ruine des Stadtschlosses, und als letzten symbolischen Gewaltakt seiner schwindenden Macht, im Mai 1968 in Leipzig die Universitätskirche sprengen. Zu den Folgen der schnell verharmlosend ‚Wende’ genannten Leipziger Montags-Revolution gehört in den kurzen zwanzig Jahren, die seitdem vergingen, neben dem erwünschten Übergang in das andere ökonomische System auch das Verschwinden aller Spuren des Gesellschaftssystems DDR und seines Alltags. Das Letzte, was von ihr übrig bleibt, wird ein kleines grünes Männchen mit Hut sein. Zu sprechen ist vom ‚Nicht-Mehr’: von etwas, das es nicht mehr gibt. Von etwas, das es nach der Auffassung der Mehrheit unseres Volkes nie hätte geben dürfen, das aber für historisch kurze, für lebensgeschichtlich dafür um so längere vierzig Jahre Wirklichkeit war, eine Wirklichkeit, von der heute kaum noch vorstellbar erscheint, wie sie gewesen ist. Zu sprechen ist von Bildern, die etwas zeigen, was sich ausser in ihnen gar nicht mehr anschauen lässt, oder nicht mehr so, wie sie es zeigen; was in die Unsichtbarkeit des Vergangenen entschwunden ist. Sich erinnern heisst nicht, beschönigen, verklären, was war; sich erinnern heisst, einem Leben Zugang zu der Kontinuität des Lebens zu verschaffen, dessen es bedarf, um sich selbst in ihm bestimmen zu können. Die Ambivalenz, die das unvermeidlich aufruft, hat Durs Grünbein in einem seiner jüngsten Gedichte, >Russischer Sektor<, Teil I, ausgesprochen. Wie schön das war, Leben, als noch alles im argen lag.
(...). Staub oder Dunst oder Ruß – das Gemüt, früh bedrückt Diese Zweideutigkeit erlebt besonders intensiv die Generation des Übergangs. Im Alten fürs Leben geprägt, begannen sie, im Neuen ihr Leben zu führen. Scheinbar ganz im Neuen aufgehend, entrückt aus ihrem Bewusstsein, was sie fürs Leben geprägt hat, umso schneller, je rascher dessen Spuren aus dem Alltag verschwinden. Darin liegt eine auf Dauer nicht geringe Gefahr: Die Kinder der ersehnten ‚Wende’ werden von deren Folgen der Vergangenheit ihrer Herkunft beraubt. Sie wird, wenn es im Laufe ihrer eigenen Lebensgeschichte erforderlich werden wird, nicht an die Stätten und zu den Gedächtnisstützen zurückkehren können, die ihre Herkunft enthielten. In ihrem Generationsschicksal, Zeitgenossen des gesellschaftlichen Verschwindens der Spuren ihrer eigenen Herkunftsgeschichte zu sein, erleben die Kinder der Wende ein Stück Fälschung von Geschichte. 1978 in Dresden geboren, gehört Janet Riedel dieser Generation des Übergangs an. Der Titel der Ausstellungsreihe, in der sie ihre „Erinnerungen aus der Gegenwart“ hier zeigt, lautet: „Zeit zu sehen“. In ihren Fotografien gibt sie eine Zeit zu sehen: sie handeln von den Resten der DDR-Wirklichkeit, wie sie um das Jahr 2000 im öffentlichen Leben ihrer Heimatstadt Dresden sichtbar waren. Bedenkt man die zu befürchtenden Spätfolgen der Folgen des DDR-Verschwindens, so wird deutlich, dass es sich bei dieser Kunst zwar um einen persönlichen ästhetischen Einsatz handelt, der jedoch eine bedeutende politische Dimension besitzt: diejenigen, die in zwei Jahrzehnten nach den Spuren ihrer Herkunft werden suchen müssen, um ihre dann fälligen Lebenskrisen meistern zu können, werden sie kaum noch wiederfinden, ausser in Dokumentationen wie dieser. Hier wird Kunst zu einem Stück politischen Widerstands gegen die politisch verordnete Herkunftslosigkeit, und zu einem Akt der Vorsorge gegen deren Auswirkungen. Was Heiner Müller von seiner Lebensleidenschaft, dem Theater, sagte, dass es ein Ort der
Deshalb bedarf das Stichwort ‚Dokumentation’ in diesem Zusammenhang genauerer Bestimmung. Denn es handelt sich bei diesen „Erinnerungen aus der Gegenwart“ um einen fotokünstlerischen Einsatz. Ihre Absicht ist nicht dokumentarisch; ihre Bildproduktion folgt einem persönlichen Interesse an Erkenntnis, einer Erkenntnis, die durch Wahrnehmung mit den technischen Mitteln der Fotografie geschieht. Die so entstehenden Bilder sind keine Dokumentation dessen, was in ihnen ansichtig wird, aber sie werden in der Anschauung anderer eine dokumentarische Funktion haben können. Janet Riedel fotografiert, um zu verstehen, was sie sieht; sie gestaltet Bilder, um sichtbar zu machen, wie sie durch Anschauung wahrgenommen hat, was sie weiss, denn die Wahrnehmung ihrer Bildmotive ist durch ihr Wissen über sie vorgeprägt, in aller Bewusstheit und mit kompositorischer Konsequenz. Die Bilder, die sie gestaltet, sind die Konvergenzfelder dieser beiden Blickrichtungen: der organischen und der intellektuellen. Es sind Bedeutungsbilder. Sie gehen aus einem forschenden Blick hervor, aus einer gelenkten Optik. So wird Sinnlichkeit intelligent und Intelligenz sinnlich, indem ein bewusstes Sehen in seiner bildnerischen Gestaltung zum Medium der Erkenntnis seiner Wahrnehmungen wird. Die Bildkomposition macht die „Einsicht“ in die Bedeutung des Gesehenen sichtbar. Im April 1993 berichtete Heiner Müller im Gespräch mit Alexander Kluge von einer Begegnung jener Tage, bei der Frank Schirrmacher ihm bekannte, er habe jetzt erst erkannt und fange an zu verstehen, dass mit der DDR zusammen auch die Bundesrepublik verschwunden ist. Mit dem Osten ist der Westen verschwunden . Das war die einzige mögliche historische Folgerichtigkeit. Gut möglich, daß man sich in anderen Konstellationen einmal daran erinnern wird. Denn darin ist das Erinnern ein Vollzug des auf Gegenseitigkeit angelegten Menschenlebens, dass sie dem erwiesen wird, der sie erwiesen hat. Eine derartige Arbeit ist umso wertvoller, als heute noch nicht einschätzbar ist, welcher Art diese künftigen Erinnerungen sein werden. Denn alle Bilder bergen mehr an Sichtbarkeit, als ihre Autoren sahen, als sie sie anfertigten. In der für die spätere Moderne kennzeichnenden Staffelung der
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