Zeit zu verschwinden oder Letzte Ansichten einer beendeten Zeit

Ein Essay zu Janet Riedels Fotografien

von Andreas Steffens

Janet Riedel - Lahmann-Sanatorium

Andreas Steffens

Zeit, zu verschwinden oder
Letzte Ansichten einer beendeten Zeit

Janet Riedels Fotozyklus "Erinnerungen aus der Gegenwart"


In diesem Jahr wird unsere Erinnerungskultur zum ersten Mal nicht von Ereignissen der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts beherrscht werden: die Erinnerung an den sich zum vierzigsten Mal jährenden Mai ’68 und dessen Folgen wird zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte den Ursprung dieser Erinnerungskultur selbst zum Gegenstand haben: den Aufstand der Söhne und Töchter gegen die Ignoranz ihrer Väter und Mütter gegen die von ihnen angerichtete, zugelassene oder erduldete Geschichte der Menschheitskatastrophen.

‚1968’ steht für eine Politisierung der Kultur und der Künste als Reaktion auf eine ausgebliebene ‚Vergangenheitsbewältigung’. Sie wurde dann umso intensiver nachgeholt, und ist heute fester Bestandteil unserer offiziellen Kultur.
Diese Reaktion war angemessen, da es sich bei den Totalitarismen, deren verdrängte Erbschaften sie angriff, um Formen einer Ästhetisierung der Politik handelte. Was Saul Friedländer für den Nazismus auf die Formel ‚Kitsch und Tod’ brachte, gilt für den Stalinismus kaum weniger. Die Idealfiguren regimetragender Gesinnungskunst unterschieden sich kaum voneinender. Die Helden der Arbeit des Sozialistischen Realismus und die völkischen Heroen des Nazismus waren nahezu identisch.
Das konnte gar nicht anders sein, da die Einstellung der einander todfeindlichen Regime zum Menschentum gleich war: für sie gab es Menschen nur noch als Masse, die sie als Rohstoff betrachteten, aus dem der ideale Mensch zu formen war.

Man muss sich vergegenwärtigen, daß die Ausläufer und Spätformen dieser Gewaltpolitik am Menschen in der DDR bis 1989 nachwirkten. Deren Regime war bis zum Machtantritt Honneckers stalinistisch.


Janet Riedel - Fabrikgelände, Industriegebiet

Eine der ihn bestimmenden Züge des Totalitarismus ist die Ersetzung der Wahrheit durch Ideologie und der Wirklichkeit durch Weltbild. Die daraus entstehende Kluft zwischen erlebter und verordneter Wirklichkeit zieht ein System ideologischer Produktion und Kontrolle der Darstellungen von Wirklichkeit nach sich.
Die Sprachform der Ideologie ist die Parole: Der kurze öffentliche Satz, der einen Gesinnungsgrundsatz in Befehlsform bringt. Auch der DDR-Alltag war von solchen Sätzen so sehr durchsetzt, dass sie in ihm keine Beachtung mehr fanden, und ihr Zitat heute am schnellsten Erinnerungen an ihn heraufruft.

In den dreißiger Jahren entwarf der Dichterphilosoph Hermann Broch eine Ästhetik der Kultur als Versuch, Geist und Lebensgehalt einer Epoche bestimmbar zu machen. Verdichtet fand er sie besonders in ihrer Architektur. Kurz darauf bestätigten die totalitären Regime diesen Gedanken durch Verwirklichung in ihren gigantischen Repräsentationsbauten.

Spät bekam auch die DDR ihren Teil davon noch ab. In Berlin ließ Ulbricht die Ruine des Stadtschlosses, und als letzten symbolischen Gewaltakt seiner schwindenden Macht, im Mai 1968 in Leipzig die Universitätskirche sprengen.
Die Leute gingen langsam mit verschlossenen Gesichtern, blickten auf die Kirche und sprachen nicht. Was wäre wohl geschehen, wenn hier tausend Menschen vorgedrungen wären oder dreitausend, die die Seile niedergetreten, die Posten beiseitegeschoben und die Pressluftbohrer zerstört hätten? Ach, das doch nicht in Sachsen, sinnierte Erich Loest in seinem 1981 in der Bundesrepublik erschienenen Roman >Völkerschlachtdenkmal<. Die Erbitterung der Leipziger über den historischen Frevel an ihrer Stadt schwelte weiter, und sollte zwanzig Jahre später zu einem Keim der Revolution von 1989 werden. Da waren es tausend, dreitausend, zehntausend, hunderttausend, die protestierten, und Loests Kennzeichnung des hauptsächlichsten sächsischen Charakterzugs Lügen straften: Wir Sachsen wollen nicht gewinnen . Dieses Mal gewannen sie, und machten Sachsens späte Rache an Preussen in Gestalt des leipziger Spitzbarts wieder gut.

Zu den Folgen der schnell verharmlosend ‚Wende’ genannten Leipziger Montags-Revolution gehört in den kurzen zwanzig Jahren, die seitdem vergingen, neben dem erwünschten Übergang in das andere ökonomische System auch das Verschwinden aller Spuren des Gesellschaftssystems DDR und seines Alltags. Das Letzte, was von ihr übrig bleibt, wird ein kleines grünes Männchen mit Hut sein.

Zu sprechen ist vom ‚Nicht-Mehr’: von etwas, das es nicht mehr gibt. Von etwas, das es nach der Auffassung der Mehrheit unseres Volkes nie hätte geben dürfen, das aber für historisch kurze, für lebensgeschichtlich dafür um so längere vierzig Jahre Wirklichkeit war, eine Wirklichkeit, von der heute kaum noch vorstellbar erscheint, wie sie gewesen ist. Zu sprechen ist von Bildern, die etwas zeigen, was sich ausser in ihnen gar nicht mehr anschauen lässt, oder nicht mehr so, wie sie es zeigen; was in die Unsichtbarkeit des Vergangenen entschwunden ist.

Sich erinnern heisst nicht, beschönigen, verklären, was war; sich erinnern heisst, einem Leben Zugang zu der Kontinuität des Lebens zu verschaffen, dessen es bedarf, um sich selbst in ihm bestimmen zu können. Die Ambivalenz, die das unvermeidlich aufruft, hat Durs Grünbein in einem seiner jüngsten Gedichte, >Russischer Sektor<, Teil I, ausgesprochen.

Wie schön das war, Leben, als noch alles im argen lag.


Janet Riedel - Wolfgang Mattheuer

Verfallene Häuser, Matratzen, die unter Birken schwelten.
Eine Kindheit vor Dresden bis zum Einmarsch in Prag...
Und der Traum restaurierte, was draußen fehlte.

(...).

Staub oder Dunst oder Ruß – das Gemüt, früh bedrückt
Von der Landschaft in Bleisatz, dem Graudruck ringsum,
Federt spät erst wie Tundra, gefrorener Boden, zurück,
Bis als letzter der Zeugen das Gedächtnis verstummt.

Diese Zweideutigkeit erlebt besonders intensiv die Generation des Übergangs. Im Alten fürs Leben geprägt, begannen sie, im Neuen ihr Leben zu führen. Scheinbar ganz im Neuen aufgehend, entrückt aus ihrem Bewusstsein, was sie fürs Leben geprägt hat, umso schneller, je rascher dessen Spuren aus dem Alltag verschwinden.

Darin liegt eine auf Dauer nicht geringe Gefahr: Die Kinder der ersehnten ‚Wende’ werden von deren Folgen der Vergangenheit ihrer Herkunft beraubt. Sie wird, wenn es im Laufe ihrer eigenen Lebensgeschichte erforderlich werden wird, nicht an die Stätten und zu den Gedächtnisstützen zurückkehren können, die ihre Herkunft enthielten. In ihrem Generationsschicksal, Zeitgenossen des gesellschaftlichen Verschwindens der Spuren ihrer eigenen Herkunftsgeschichte zu sein, erleben die Kinder der Wende ein Stück Fälschung von Geschichte.

1978 in Dresden geboren, gehört Janet Riedel dieser Generation des Übergangs an. Der Titel der Ausstellungsreihe, in der sie ihre „Erinnerungen aus der Gegenwart“ hier zeigt, lautet: „Zeit zu sehen“. In ihren Fotografien gibt sie eine Zeit zu sehen: sie handeln von den Resten der DDR-Wirklichkeit, wie sie um das Jahr 2000 im öffentlichen Leben ihrer Heimatstadt Dresden sichtbar waren.

Bedenkt man die zu befürchtenden Spätfolgen der Folgen des DDR-Verschwindens, so wird deutlich, dass es sich bei dieser Kunst zwar um einen persönlichen ästhetischen Einsatz handelt, der jedoch eine bedeutende politische Dimension besitzt: diejenigen, die in zwei Jahrzehnten nach den Spuren ihrer Herkunft werden suchen müssen, um ihre dann fälligen Lebenskrisen meistern zu können, werden sie kaum noch wiederfinden, ausser in Dokumentationen wie dieser. Hier wird Kunst zu einem Stück politischen Widerstands gegen die politisch verordnete Herkunftslosigkeit, und zu einem Akt der Vorsorge gegen deren Auswirkungen.

Was Heiner Müller von seiner Lebensleidenschaft, dem Theater, sagte, dass es ein Ort der


Janet Riedel - Euer Merkwürden
Geschichtsschreibung sei, gilt für jede Kunst, vorausgesetzt, bei ihr handelt es sich um die ästhetische Disziplin einer individuellen Gestaltung von Erfahrung.

Deshalb bedarf das Stichwort ‚Dokumentation’ in diesem Zusammenhang genauerer Bestimmung. Denn es handelt sich bei diesen „Erinnerungen aus der Gegenwart“ um einen fotokünstlerischen Einsatz. Ihre Absicht ist nicht dokumentarisch; ihre Bildproduktion folgt einem persönlichen Interesse an Erkenntnis, einer Erkenntnis, die durch Wahrnehmung mit den technischen Mitteln der Fotografie geschieht. Die so entstehenden Bilder sind keine Dokumentation dessen, was in ihnen ansichtig wird, aber sie werden in der Anschauung anderer eine dokumentarische Funktion haben können.

Janet Riedel fotografiert, um zu verstehen, was sie sieht; sie gestaltet Bilder, um sichtbar zu machen, wie sie durch Anschauung wahrgenommen hat, was sie weiss, denn die Wahrnehmung ihrer Bildmotive ist durch ihr Wissen über sie vorgeprägt, in aller Bewusstheit und mit kompositorischer Konsequenz. Die Bilder, die sie gestaltet, sind die Konvergenzfelder dieser beiden Blickrichtungen: der organischen und der intellektuellen. Es sind Bedeutungsbilder. Sie gehen aus einem forschenden Blick hervor, aus einer gelenkten Optik.

So wird Sinnlichkeit intelligent und Intelligenz sinnlich, indem ein bewusstes Sehen in seiner bildnerischen Gestaltung zum Medium der Erkenntnis seiner Wahrnehmungen wird. Die Bildkomposition macht die „Einsicht“ in die Bedeutung des Gesehenen sichtbar.
Dabei ist ihre Annäherung an ihre Wahrnehmungen ebenso behutsam wie bedächtig. Die verhaltene Stilisierung einer gedämpft zurückgenommenen Farbigkeit nimmt dem Weltausschnitt, den das Bild repräsentiert, die realistische Drastik, die dem Medium Fotografie innewohnt.
So wird das scheinbar dokumentarische Bild statt zu einem Abbild im Dienst der Wirklichkeit zu einem Kommentar ihrer individuellen Wahrnehmung. Deren klare Formgebung besetzt einen eigenen Ort inmitten der Wirklichkeiten: Ich bin, indem ich zeige, wie ich wahrnehme, was ich sehe.

Im April 1993 berichtete Heiner Müller im Gespräch mit Alexander Kluge von einer Begegnung jener Tage, bei der Frank Schirrmacher ihm bekannte, er habe jetzt erst erkannt und fange an zu verstehen, dass mit der DDR zusammen auch die Bundesrepublik verschwunden ist. Mit dem Osten ist der Westen verschwunden . Das war die einzige mögliche historische Folgerichtigkeit.
Heute wissen wir, dass es anders kam, so dass man im Irrealis formulieren muß: es wäre die historische Konsequenz gewesen, hätte man sich auf sie eingelassen. Man hat nicht. Gäbe es eine politisch-gesellschaftliche Bewegung zum Neubau der Nation, die die Konsequenz dieser Einsicht gewesen wäre - es gibt sie nicht - , so wäre dieser Zyklus einer zeitgeschichtlich wachsamen Bildintelligenz ein Beitrag zum begleitenden Fundus ihrer Erinnerungen.

Gut möglich, daß man sich in anderen Konstellationen einmal daran erinnern wird. Denn darin ist das Erinnern ein Vollzug des auf Gegenseitigkeit angelegten Menschenlebens, dass sie dem erwiesen wird, der sie erwiesen hat.

Eine derartige Arbeit ist umso wertvoller, als heute noch nicht einschätzbar ist, welcher Art diese künftigen Erinnerungen sein werden. Denn alle Bilder bergen mehr an Sichtbarkeit, als ihre Autoren sahen, als sie sie anfertigten. In der für die spätere Moderne kennzeichnenden Staffelung der


Janet Riedel - Verhörtisch, Staaatssicherheit, Bautzener Straße
einander durchdringenden Medien hat diesen Sachverhalt für die Fotografie ein Film unübertrefflich dargestellt, Antonionis >Blow Up<. Erst dieser Überschuss, dass sie mehr zeigen, als der Blick sah, der sie entstehen liess, befähigt die Bilder dazu, jenseits des Zeugnisses einer persönlichen Wahrnehmung auch zu einem Dokument des ‚sozialen Gedächtnisses’ zu werden.

Janet Riedel reagiert mit ihrer Fotokunst auf jene historische Enteignung, indem sie mit ihr für ein künftiges Bewusstsein Dokumente einer irgendwann unvermeidlichen Erinnerung herstellt. Indem sie mit den Bildgebungen ihrer eigenen Erinnerungen Spuren der Zeit legt, aus der sie stammt, trägt sie dazu bei das Feld zu erweitern, auf dem künftige Rückblicke auf diese Zeit ihre Entdeckungen werden machen können.