Bedenkfilm und Krimi mit Überraschungs-Knalleffekt

„Remember“ von Atom Egoyan

von Renate Wagner

Remember
(Kanada / Deutschland – 2015)

Regie: Atom Egoyan
Mit: Christopher Plummer, Martin Landau, Bruno Ganz, Jürgen Prochnow, Dean Norris u.a.
 
Die längste Zeit hindurch darf man der Meinung sein, daß es sich hier um einen der ehrenvollen Filme über die letzten Holocaust-Überlebenden handelt, die Gerechtigkeit suchen, bevor es zu spät ist. Und in diesem Fall die Gerechtigkeit selbst in die Hand nehmen, weil niemand sonst es tut… Später, wenn die gänzlich unerwartete, verrückte und dennoch nicht unmögliche „Lösung“ den Film zu einem Thriller gemacht hat, merkt man, daß viele Unebenheiten hätten auffallen müssen. Und doch – daran hat man nicht gedacht. Kurz, Regisseur Atom Egoyan hat den denkbar trickreichsten Film zu dem Thema gedreht, den man sich vorstellen kann.
Es beginnt in einem New Yorker Altersheim, dessen Insassen offenbar vor allem Juden sind. Max Rosenbaum und Zev Guttman haben gemeinsame Erinnerungen an Auschwitz. Und an den Blockführer Otto Wallisch, der ihre Familien auf dem Gewissen hat, der unter angenommenem falschen Juden-Namen in den USA lebt und der gar nichts zu befürchten hat.
Max ist die treibende Kraft, hat vier Männer namens „Rudy Kurlander“ aufgetrieben, die der Gesuchte sein könnten, aber Max sitzt im Rollstuhl. Zev wiederum leidet an schwerer Demenz – daß seine Frau seit kurzem tot ist, das kapiert er nicht. Keinesfalls der Richtige, zur Rache losgeschickt zu werden – oder doch? Schließlich kann sich Max (Martin Landau glüht innerlich für seine „Mission“) nicht bewegen, Zev hingegen doch.
Mit dem leeren Blick des Mannes, der immer wieder ins Unbewußte abtaucht, dann gelegentlich wieder „da“ ist, im Grunde aber durch sein Leben schlafwandelt, liefert Christopher Plummer auf der Odyssee des Zev eine Gänsehaut erzeugende Meisterleistung.
Viermal „Rudy“ stehen auf der Liste  – der Erste ist Bruno Ganz, der sehr alte, weißhaarige Mann, der aber schnell beweisen kann, daß er nicht der Gesuchte ist: Er war bei Rommel in Afrika. Der zweite Rudy liegt im Sterben und ist tatsächlich selbst Jude.
Der dritte Rudy ist bereits gestorben, aber in seinem Sohn, einem Sheriff (Dean Norris), findet Zev die Inkarnation des Neonazis, der alle Memorabilia sammelt und den Besucher, als dieser seine Identität bekennt, als „dreckigen Juden“ beschimpft. Nun trägt Zev schon die längste Zeit eine Pistole mit sich, bereit, sie zu benützen. Er tut es. (In einer grotesken Szene am Rande, wird er von einem Kaufhausdetektiv irrtümlich aufgehalten. Als dieser die Glock im Nylonsäckchen sieht, wundert er sich nicht eine Sekunde – bekommt nur angesichts der Waffe sehnsüchtige Augen… Das ist Amerika.)
Der vierte Rudy Kurlander, von Jürgen Prochnow uralt gezeichnet, scheint Zev erwartet zu haben. Der „brave“ Mann mit großer Familie, lauter liebenswürdige Frauen, schließt den Besucher sogar in die Arme (auch bezeichnend, daß Zev sich ans Klavier setzt und „Isoldes Liebestod“ spielt). Will er Buße tun? Aber nein, hier zeigt sich, daß alles ganz anders ist und war – und daß Max offenbar ein teuflisches Spiel gespielt, ein letales Netz geknüpft hat, so daß Verdrängung, Lebenslüge, Demenz zusammen sich wahnsinnig und zu keiner anderen Lösung als dem Tod finden.
Wie gesagt, über weite Strecken scheint nur das Holocaust-Thema angesprochen: Wie viel Sinn macht es, hier noch hinter Sterbenden und Toten herzujagen? Andererseits gibt es Facetten, an die man nicht gedacht hat. Und dann ist der „Bedenkfilm“ am Ende ein Krimi mit Überraschungs-Knalleffekt.
 
 
Renate Wagner