Da fehlt die Poesie

„Das Dschungelbuch“ von Jon Favreau

von Renate Wagner

The Jungle Book
(USA 2015) 

Regie: Jon Favreau
Mit: Neel Sethi as Mowgli und den Stimmen prominenter Darsteller
(sowohl in der Originalfassung wie in der deutschen Fassung)
 
Wenn man nur liest „Walt Disney“ und Neuverfilmung des „Dschungelbuchs“, hat man wohl vage eine neue Animationsfassung im Kopf. Wenn dann ein kleiner Junge über die Leinwand rast, ist der erste Eindruck einer der totaler Verblüffung: Der ist ja echt, ungeachtet der unrealistischen Purzelbäume, mit denen er sich durch den Urwald schwingt! Aber all die Tiere um ihn herum, die können es wohl nicht sein, so echt sie auch wirken (aber natürlich sprechen sie, Klein Mowgli, das Menschenkind, ist ja einer von ihnen, kann mit ihnen kommunizieren). Also – was ist das?
Das ist das allerneueste Hollywood-Kunststück. Tatsächlich hat man Menschen und Computeranimation schon oft genug gemeinsam gesehen (die Schauspieler von „Star Wars“ lachten darüber, daß sie ins Nichts spielen mußten, weil ihre Partner erst später animiert eingefügt wurden) – aber hier ist dem Regisseur Jon Favreau etwas Besonderes gelungen. Man will jetzt als Kritiker nicht angeben, als verstünde man, wie CGI (Computer-Generated Imagery) und „Motion Capturing“ (Bewegungserfassung) funktionieren, aber das Ergebnis ist atemberaubend.
 
Da entsteht nicht nur der Dschungel, da wirken auch die Tiere so „echt“, als wären sie es – und haben doch, wie bei Disney üblich, dann eine Art von „menschlichem“ Gesichtsausdruck (wenn man so sagen kann), daß man sie unschwer zu den Guten oder Bösen einordnen kann. (Die Bewegungserfassung, die sich an echten Tieren orientiert, erzielt die verblüffenden Ergebnisse dieser neu geschaffenen Kino-Wirklichkeit.)
Also, das ist die gute, kluge Wölfin Raksha (Stimme in der Originalfassung: Lupita Nyong‘o / deutsche Fassung: Heike Makatsch), die das Kind Mowgli aufgezogen hat, weil der böse Tiger Shere Khan (Idris Elba / Ben Becker), der sich wirklich beängstigend bewegt, seine Familie getötet hat. Da ist Bagheera (Ben Kingsley / Joachim Krol), der schwarze Panther, für Mowgli ein treuer Freund, aber was macht man angesichts eines Todfeindes, der doch das mächtigste Tier weit und breit ist?
Mowglis Flucht vor dem Tiger inmitten einer wild dahinrasenden Herde von Bullen zeigt, daß es hier gewissermaßen um „echt“ dramatische Action geht und nicht um die erneute Beschwörung von Kinderwelten im Tierpark. Sicher, der Bär Balu (Bill Murray / Armin Rohde) ist komisch, aber der Schlange Ka (Scarlett Johansson / Jessica Schwarz) möchte man im Ernstfall lieber nicht begegnen, und auch der schaurige Affenkönig Louie (Christopher Walken / Christian Berkel) wirkt mehr grotesk bedrohlich als lustig.
Kurz, der ganze Kosmos des Rudyard Kipling kommt in dieser Neuverfilmung, die – noch einmal gesagt – so „echt“ wirkt, als wäre sie echt (kein Hauch mehr von Animation, die sich dazu bekennt), teilweise schaurig und auch in Farben und Nachtszenen düster über die Leinwand.
 
Erwähnenswert die „sprachlichen“ Leistungen der Synchronsprecher, hervorragende Charakterisierungen, geradezu magisch wirkend in der Originalfassung, sicher genau so gut auf Deutsch, hat man doch hochkarätige Darsteller dafür gewählt.
Alles bestens? Nicht wirklich. Denn seltsam bleibt, daß der kleine Junge (man fand den 12jährgen Neel Sethi in New York, aber seine indische Herkunft scheint unzweifelhaft), der so lustig und lebendig ist, und all die so prächtig gezeichneten Tiere trotz normaler Kinderfilmlänge von nur eineinhalb Stunden es nicht vermögen, den Eindruck der Langeweile zu vertreiben, der sich immer wieder anschleicht. Vielleicht, weil es letztenendes immer dasselbe ist, Mowgli und dieses Tier, Mowgli und jenes Tier, und weil sich nicht unbedingt etwas „tut“, so sehr auch versucht wird, in „Action“ zu machen.
Im Grunde wäre weniger mehr, denn wenn in einigen Szenen plötzlich in Gesang und Tanz ausgebrochen wird wie in anderen Disney-Kinderfilmen, die starken Musical-Charakter haben, dann paßt das eigentlich gar nicht hierher.
So weicht das legitime Staunen des Beginns, bis man das Wunder dieser neuen „Trickwelt“ als selbstverständlich nimmt, dann der freundlichen Gleichgültigkeit des Publikums. Die weisen Sprüche mancher Tiere, hier und da eingestreut, greifen so wenig wie das bißchen Humor, das man gerade noch (mit dem Bären) hineinwürzt. Ist es schlicht und einfach die Poesie von einst, die diesem technischen Meisterwerk fehlt?
 
 
Renate Wagner