Damen-Bauch

von Karl Otto Mühl

Damen-Bauch
 
Herr Semmel ist fünfundachtzig Jahre alt und besucht einmal wöchentlich eine Vortragsreihe über seniorengerechte Ernährung. Die Vorträge finden im Gemeindehaus statt und sind gut besucht. Viele Teilnehmer kennt Herr Semmel, er ist der älteste. Die meisten sind zwischen Sechzig und Siebzig.
Herr Semmel hat sich schnell an diese Altersgruppen gewöhnt, zu denen er ja selbst gehört. Er hat auch herausgefunden, wer von den Senioren sich besonders jung und fit erhalten konnte. Da muß man gleich zu Anfang an erster Stelle Frau Petra B. nennen. Mag sie schon über 60 sein – sie bewegt sich aber grazil, hat eine glatte Haut, ist fröhlich und unterhält sich unbefangen mit jedermann. Einmal hat Herr Semmel gedacht, daß sie eine gute Frau für einen heiratsuchenden Mann wäre, natürlich nicht für ihn selbst, denn er ist verheiratet mit Sophie, die allerdings nicht mehr so gut zu Fuß ist.
 
Das vergißt Herr Semmel nie, und im Übrigen hat er gelernt, nicht zu viele Gedanken auf Frau Petra oder andere Frauen zu verwenden. In der Jugend ist er mehrfach durch zu intensives Denken in Affären hineingeraten, aus denen nur schwer wieder herauszukommen war.
Ganz anders heute, wo er an Reife zugenommen hat: Wenn solche Gedanken in ihm auftauchen, denkt er immer wieder darüber nach, wie er diese Gedanken loswerden kann. Das nimmt oft Tage, ja, Wochen in Anspruch.
Aus dem Kurs hat sich Herr Semmel einige Gewürzkräuter notiert, die er seiner Sophie weiterempfohlen hat. Dies beweist, wie notwendig und nützlich der Besuch von Herrn Semmel in dieser Vortragsreihe für das Wohl der Familie ist. Sophie versichert ihm jedoch immer wieder, daß er von ihr schon jetzt optimal ernährt werde.
 
Die Kursteilnehmer, die ja ein gemeinsames Ziel, das gesunde Leben, vereint, haben sich inzwischen aneinander gewöhnt und kommen sichtlich gerne zu diesen Abenden. Zum Abschied umarmen sich alle, eine Gewohnheit, die sich im Abendland weitgehend durchgesetzt hat.
So war es auch an diesem Abend. Herr Semmel absolvierte eine Umarmung nach der anderen, oft halb abgewandt, so daß er nur einen Teil des jeweiligen weiblichen Busens zu spüren bekam. Eigentlich tat er das nur so, um eine gewisse Art von Noblesse deutlich werden zu lassen.
Und jetzt hielt er Petra B. in den Armen. Er wußte nicht warum, aber er merkte – hier fällt es mir schwer, einen treffenden Ausdruck zu finden - daß er einen zarten, kleinen Wangenkuß - wieder suche ich nach einem Ausdruck. Kann man vielleicht sagen, daß ihm dieser Wangenkuß gleichsam entfuhr, bevor er darüber entscheiden konnte?
Und dann – ja – war es möglich-? Semmel spürte, daß sich Frau Petra leicht an ihn preßte. Es fällt mir schwer, dies niederzuschreiben, aber Semmel meinte, eindeutig ihren kleinen, straffen Bauch zu spüren. War das ein Angebot?
Nein, das war es nicht. So leicht machen es einem die Frauen nicht. Der Druck war gerade so stark, daß er mit einem stärkeren Gegendruck hätte reagieren müssen, und damit hätte er eine große Verantwortung übernommen.
 
Semmel sagte sich, daß die Sache nicht jetzt und sofort entschieden werden mußte. Drücken konnte er noch immer, nicht nur heute.
In den nächsten Tagen hatte er viel damit zu tun, nachzudenken, wie er diese Gedanken an Frau Petras kleinen, straffen Bauch in eine ungefährliche Ecke abdrängen könnte. Nie hätte er gedacht, daß diese eigentlich unauffällige Körperregion so viel Gedankenarbeit beanspruchen könnte.
Niemand möge die Ernsthaftigkeit der Überlegungen von Herrn Semmel unterschätzen. Wer das täte, übersähe wahrscheinlich, daß der sanfte Druck eines Damenbauches mehr ist als ein rein physikalischer Vorgang, wenn es denn solche überhaupt gibt.
Der Vorgang löste im Gegenüber, hier in Herrn Semmel, Trompetenstöße wie beim Auftakt eines Festes aus. Die weit geöffneten Augen von Frau Petra waren für ihn wie der Blick in eine österliche, besonnte Landschaft, wie hallende Worte, die verkündeten, daß er willkommen und geliebt war.
Keine Beschreibung des rein physikalischen Vorgangs könnte solches ausdrücken, wie überhaupt die rationale, für objektiv geltende, an der sogenannten Wissenschaft orientierte Sprache niemals die Essenz der Individualität erfassen kann. Man denke nur an das erschreckende Unverständnis, das uns Schriftstellern immer wieder bei Rezensenten begegnet. Kaum einer unter denen, der unsere wahre Bedeutung so zu erkennen vermag wie wir selbst.
 
Umgekehrt muß man jedoch eingestehen, daß auch eine Dame die Vielschichtigkeit des Drück-Vorgangs nicht so leicht erfassen könnte. Würde man diesen Text Frau Petra vorlesen, so würde sie wie über ein fernliegendes Kuriosum verträumt lächeln – mit einer Mischung aus Höflichkeit, Amüsement und Befremden.
Was ein Mensch fühlt und erlebt, kann kein anderer Mensch beschreiben. Nur Wenigen ist das klar.
Übrigens fand Semmel, wie er meinte, einen Ausweg aus der scheinbar auswegslosen Situation. Er schrieb einen kurzen Brief:
„Liebe Frau Petra! Nach dem Kursende ist in mir der Gedanke aufgetaucht, daß Sie vielleicht zu der Materie noch Fragen haben könnten. Es handelt sich ja um ein weites Feld, und ich darf Ihnen sagen, daß ich dazu völlig neue Erkenntnisse beitragen könnte. Ich werde mich dieserhalb auch noch mit der Referentin in Verbindung setzen.
Ihnen aber würde ich auf Wunsch schon jetzt davon weitergeben können. Ich denke nämlich, daß von der gegenwärtigen Ernährungswissenschaft die Quantenphysik viel zu wenig berücksichtigt wird. Sie zeigt uns, wie durch den Informationsaustausch zwischen Pflanzen auch deren Wirkungsmechanismus beeinflußt wird. Genug davon – aber ich mußte Sie einfach wissen lassen, daß ich mich mit dem Gedanken trage, Ihnen demnächst ein Gespräch zu diesem Thema anzubieten.
Wenn ich Sie jetzt bitte, sich zu gedulden, bis ich mich selbst noch mehr in dieses Spezial-Gebiet eingearbeitet habe, so denken Sie um Gotteswillen nicht, ich würde Sie ratlos allein lassen, was Sie vielleicht jetzt noch sind.
Nein, ich melde mich bestimmt, sobald ich noch einige Fragen mit mir selbst geklärt habe.“
 
Bei diesem Brief beließ es Semmel nicht. Er ließ am nächsten Tag eine Mitteilung folgen, daß er nun mit seinen Überlegungen ein Stück weiter sei.
 
Niemand weiß, wie viele Briefe Semmel folgen ließ und wie viele er noch folgen lassen wird. Nachbarn ist jedoch aufgefallen, daß Frau Petra mehrmals am Tage ihren Briefkasten öffnet und angestrengt hineinschaut. Damit ist zwar noch nichts über den Ausgang dieser Beziehung gesagt, aber dennoch gezeigt, wie sehr langes Nachdenken Menschen bewegen kann.
 


© 2015 Karl Otto Mühl
Erstveröffentlichung in den Musenblättern