Vor hundert Jahren: pädagogische Fehl- und Umdeutungen

Märchen als Basis für „Gesinnungsstoffe“ im Grundschulunterricht

von Heinz Rölleke

Foto © Frank Becker
Vor hundert Jahren:

Märchen als Basis für „Gesinnungsstoffe“
im Grundschulunterricht
 
von Heinz Rölleke
 
 
Die einigermaßen revolutionäre Methodik der schulischen Erziehung des Pädagogen Johann Friedrich Herbart († 1841) setzte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts  - dann allerdings mit Vehemenz -  als sog. Herbartianismus durch: Es kam erstmalig zur Etablierung der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin an Universitäten; es wurden jahrzehntelang Herbarts Ideen zu einem lehrerzentrierten Unterricht nach streng gefassten Vorgaben diskutiert, aber auch kritisiert, und die Heerschar seiner Schüler und Gefolgsleute war bis in die Zeiten des Ersten Weltkriegs hinein kaum noch zu übersehen.
Einer der bekanntesten und vielleicht profiliertesten seiner Jünger war Max Troll, Rektor der Mädchenbürgerschule in Schmalkalden (Thüringen) von 1900 bis 1932, dessen Publikationen bis 1916 sogar in den USA Aufmerksamkeit fanden, und über den seine Enkelin noch im Jahr 2009 eine preisende Monographie in Buchform vorgelegt hat.
Ähnlich wie im später einsetzenden und bis heute reüssierenden Einfluss der Anthroposophen auf Schulen, Lehrer und Lehrpläne nahmen auch bei den Herbertianischen Pädagogen um Troll die Grimm'schen Märchen ebenfalls eine ganz zentrale Stelle in Vorbereitung und Durchführung des Unterrichts ein.
Diese Tatsache ist auch unter dem Aspekte der Märchenrezeption im deutschsprachigen Bereich bis in die Gegenwart hinein nicht uninteressant; hatten doch die Generationen unserer Eltern und Großeltern ihr Märchenverständnis etwa zu gleichen Teilen der häuslichen wie der schulischen Erziehung zu danken, und die Märchenbefürworter wie -kritiker bezogen diese Instanzen stets in ihre Überlegungen ein: Für die einen vermittelten (auch und gerade die schulischen Sichtweisen auf) Märchen eine heile, konservativ geprägte Weltsicht und -deutung, für die andern ein abzulehnendes Werte- und Erziehungsbild, das nach radikalen Ansichten geradezu direkt in den Erfolg der Nationalsozialisten und deren Greueltaten geführt habe. Was das Märchens selbst, was seine eigentliche, immer noch umrätselte Bedeutung betrifft, so sei dazu hier nur angemerkt, dass die neuere seriöse Märchenforschung inzwischen zu gänzlich anderen Ergebnissen gekommen ist, dass aber auch die einseitige Herleitung von Weltanschauungen aus der Art des jeweiligen schulischen Umgangs mit diesen alten Geschichten gar nicht so geradlinig und undifferenziert verlaufen ist, wie man gern unterstellt.

Auf dem Titelblatt eines der wirksamsten pädagogischen Bücher Max Trolls steht: „Das erste Schuljahr. Theorie und Praxis der Elementarklasse im Sinne der Reformbestrebungen der Gegenwart (erschienen beim Herzoglich-Sächsischen Hofbuchhändler Beyer in Langensalza). Das Buch erlebte zwischen 1907 und 1913 vier Auflagen: Eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte, die offenbar durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihr unvorhersehbares Ende fand.
Troll versucht in seiner Anleitung für (angehende) Lehrer erkennbar den Herbart'schen Idealen nahezukommen, etwa dass Entsprechungen zwischen geschichtlichen Epochen und einzelnen Altersstufen der Schüler erwogen und aufgezeigt werden, dass man in einer Art ganzheitlichem Unterricht die Fächer miteinander zu verknüpfen sucht, was im genannten Buch für Lesen, Darstellendes Spiel, Religionsunterricht, Malen und Musizieren einigermaßen, für (thüringische) Heimatkunde kaum und für die Grundformen des Rechnens erwartungsgemäß überhaupt nicht gelingt.
Immerhin: Einen Mittelpunkt bildet erkennbar die Beschäftigung mit ausgewählten Geschichten aus Grimms „Kinder- und Hausmärchen“ nach der Ausgabe Letzter Hand von 1857. Dem Märchenkenner fällt zuerst auf, dass dem Märchenverehrer Troll die herangezogenen Texte (obwohl sie seitenweise meist wörtlich genau angeführt sind) nicht immer recht vertraut waren. Da ist denn für den Philologen sozusagen a priori der Wurm drin.

In „Rotkäppchen“  fragt der Wolf bei Grimm: „'Was trägst du unter der Schürze?'“ - 'Kuchen und Wein für die kranke Großmutter'.“ Wenig später schreibt der angeblich so sehr auf Genauigkeit bedachte Schulmann: „Je ein Kind übernimmt die Rolle … Rotkäppchens … Rotkäppchen trägt ein Körbchen am Arm, in welchem sich ein Stück Kuchen und eine Weinflasche befindet [recte: befinden!].“ In „Frau Holle“ wird dann allerdings bereits der Text manipuliert. Aus dem Grimm'schen „Das arme Mädchen musste … so viel spinnen, dass ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, dass die Spule einmal ganz blutig war ...“ wird bei Troll „Das arme Mädchen musste … so viel waschen, dass ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, dass ein Betttuch einmal davon ganz blutig wurde ...“. Dass der Autor erkennbar für ein „Körbchen“ schwärmt, das in dem von ihm interpretierten Text gar nicht vorkommt, ist zwar seltsam, dürfte aber im Blick auf die seinerzeit überaus populäre Fassung des Märchens durch Bechstein zusammenhängen, der tatsächlich in den Grimm'schen Text ein „Körbchen“ eingefügt hatte. Was aber seine Phobie gegenüber der bei Grimm so häufig begegnenden und offenbar auch symbolisch (stimmig) aufzufassenden Spindel oder vice versa seine innerhalb der Märchentradition etwas seltsameVorliebe für blutige Betttücher bestimmt, muss wohl rätselhaft bleiben.
Bei der Ausdeutung geht es Troll fast nur um 'Lehren', welche die Märchen angeblich ausschließlich bieten und um deren Nutzanwendung für Erstklässler um die Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. Dabei läuft es auf eine heillose Verwirrung von teilweise ja anarchischem Märchenpersonal und simplen, meist gutbürgerlich-christlichen Moralvorstellungen hinaus, wobei letztere auf Schritt und Tritt zu kurz greifen, falsch angesetzt und den eigentliche Intentionen des Märchens so gut wie nie gerecht werden.
Da liest man denn zum „Sterntaler“: „Wenn aber eure Mitschülerin schlechte, zerrissene Schuhe hat …, so fragt eure lieben Eltern, ob ihr dieser nicht ein Paar alte Schuhe … schenken dürft … wollen wir uns merken: Vertrau auf den lieben Gott!“ Nicht das im Märchen vorgestellte spontane, bedingungslose Mitleid bis zur Selbstaufgabe wird verdeutlicht, sondern es wird eine höchst abgeschwächte, den gutbürgerlichen Spielregeln angepasste Strategie empfohlen, von der im Märchen ebenso wenig ein Wort steht wie vom „lieben Gott“.
In „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ bildet angeblich eine fatal endende Gehorsamsprüfung das Zentrum: „Der Ungehorsam und die Neugier [der kindlichen Ziegen] wird [recte: werden!] bestraft … Gute Kinder folgen ihren Eltern.“  Denn die Kinder sollen ihre Eltern lieben; „so will es auch der liebe Gott; darum hat er gesagt: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“.  „Der Wolf … frisst die sechs Geißlein, die ihm gar nichts Böses getan haben. Dafür bekommt er aber auch seine Strafe. Er muss in dem Brunnen ertrinken. Der Bösewicht wird bestraft.“ Ja, du liebe Zeit, wenn der Wolf und andere wilde Tiere nur die Lebewesen reißen würden, die ihnen „Böses“ getan haben, dann würden sie wohl bald verhungern. Wo soll denn der Wolf seine 'Moral' hernehmen, die ihn evtl. lehren würde, statt Fleisch Gras zu fressen? Was hat das Vierte Gebot, das hier gar nicht zur Debatte steht, mit der Handlung dieses Märchens zu tun (zumal in dem biblischen Gebot ausdrücklich nicht davon die Rede ist, dass man seine Eltern „lieben“ soll)? Es geht um Nutzanwendungen und nicht um Liebesbeziehungen zwischen stets guten Eltern und nicht immer angepasst braven Kindern.
Aus „Rotkäppchen“ werden dann erwartungsgemäß dieselben Schlüsse gezogen: „Der Wolf … ist ein Bösewicht; denn er frisst die Großmutter und das Rotkäppchen, die ihm gar nichts getan haben.“ Das genaue Gegenstück wird aus den „Bremer Stadtmusikanten“ herausgefiltert: „Der Esel … ist mitleidig. Er hilft den andern Tieren in der Not“. Das kann man auch ganz anders sehen: Der Esel ist ein Egoist (jenseits aller moralischen Wertungen!), der ohne Rücksicht auf Verlust um sein eigenes Überleben kämpft und dem dabei jedes Mittel recht ist. Indem er etwa die lahmen und ratlosen Tiere für sich in Dienst nimmt.

Ein Zentnermotiv wie der grausige Mordanschlag der alten Sanne auf den kleinen Knaben im Märchen vom „Fundevogel“ wird auf kleinbügerliches Format zurückgestutzt: „Warum will sie ihn wohl umbringen? Sie wollte nicht mehr so viel Arbeit haben … Bett machen, ankleiden, Essen kochen. Was für eine Frau war also die Sanne? Eine faule Frau.“ Das wird also aus einer grauslich-faszinierenden Märchenhexe im Schuluntericht für weibliche Erstklässler – dass die Mädchen später unter solchem Interpretationsaspekt diese Märchen und viele andere als schlichtweg langweilig oder mindestens höchst alltäglich in Erinnerung behalten haben, steht sehr zu befürchten. Vielleicht hätte ihnen ein Hinweis auf das erstaunlich emanzipierte Verhalten der Schwester und dessen märchenhafter Erfolg den Schülerinnen auf die Dauer mehr gegeben.
Als letztes Beispiel die Quintessenz des Schulmannes aus „Frau Holle“: „Die eine war fleißig, die andere faul. Welche Schwester gefällt dir?“ Es steht zu vermuten, dass die jungen Mädchen insgeheim eher angeblicher Faulheit geneigt sein könnten (denn wie oft werden nicht Faule und Faulheit in Grimms Märchen wohlwollend betrachtet oder sogar belohnt?!) -  das durften sie natürlich beileibe nicht laut sagen. „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Der Faule leidet bittre Not; dem Fleiß'gen fehlt es nie an Brot“. Im Märchen musste aber die gezwungenermaßen fleißige Stieftochter (zunächst) schweren Hunger leiden, während es der Tochter in dieser Hinsicht trotz ihrer Faulheit das ganze Märchen hindurch sehr gut ergeht: Sie hat bei ihrer Mutter wie bei Frau Holle alle Tage „Gesottenes und Gebratenes“, Essen und Trinken die Fülle.  Tatsächlich scheint es aber auch in diesem Märchen um ganz andere und tiefere Junkturen als 'fleißig' und 'faul' zu gehen, nämlich vor allem um 'reif' oder 'unreif' mit allen äußeren Ingredienzien wie Schönheit, Fleiß, Geduld.

Insgesamt ist es natürlich erfreulich zu sehen, wie auch im Bereich der Schule die jahrhundertelange Märchentradition aufrecht erhalten wurde und welche Fülle von Beobachtungen und Parallelen daraus zu gewinnen sind: von der Zeichnung eines Ziegenstalles für die „Sieben Geißlein“ über forstwirtschaftliche Erkenntnisse durch den Stiefvater des Fundevogels bis hin zum Gesang von  Liedern auf den Sternenhimmel anlässlich der „Sterntaler“-Geschichte. Leider aber wird damals wie heute  hinsichtlich der eigentlichen (zeitüberdauernden!) Intentionen sowie der archaischen und archetypischen Bilder der Märchen immer wieder zu kurz geschlossen und auf 1:1-Umsetzung in die gerade herrschenden Moral- und Weltvorstellungen gedrängt. Diese Interpretationen sind nun natürlich immer ephemer und können kaum den Kindern 'Lehren fürs Leben' vermitteln und mitgeben; dafür wären Texte aus der uralten literarischen Gattung der (Tier)Fabel mit ihren einfachen, aber zum Teil ebenfalls überzeitlichen Lehren und Nutzanwendungen zweckdienlicher heranzuziehen. Indes setzte man wie immer, so auch im Jahr 1907 auf die Popularität der Märchen, um die Kinder da 'abzuholen', wo sie sich vielleicht schon auskennen, denn wenn man heute von den Märchen als letztem Rest literarischer Allgemeinbildung spricht, so läuft es auf dasselbe hinaus. Man versucht die Konsumenten in der Werbung, die Kandidaten in der Quizsendung, die Zuschauer im literatursatirischen Kabarett,  ja selbst die Germanistikstudenten des ersten Semesters dort abzuholen, wo es in der Tat meist noch etwas zu holen gibt: bei ihrer Märchenkenntnis.
Das Märchen hat noch sämtliche diversen Strömungen von (Miß)Deutungen aller Art und Indienstnahmen für Pädagogikkonzepte oder politische Ideologien souverän überlebt. Max Troll und den Herbartianern sollte man trotzdem Dank wissen für ihren Part, den sie dabei mit Überzeugung und Leidenschaft gespielt haben. Man sollte ihnen und vor allem ihren doch recht kurz greifenden Deutungsansätzen nicht in allem vertrauen, obwohl auch diese ihren Platz in der Geschichte und auf dem Gebiet der Märchenforschung verdienen, denn wie heißt es so schön und richtig in der Bibel: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.
 
 
© 2016 Heinz Rölleke