Die öffentliche Meinung

Aus dem Grimmaischen Wochen- und Anzeige-Blatt

Sultan Mahmud II.
Die öffentliche Meinung
In der Nähe des Serails zu Constantinopel steht eine elende kleine Hütte. Jeder Fremde, der dahin kam, hat sie gesehen, jeder Türke kennt sie; denn sie ist für Constantinopel die Mühle von Sanssouci, ja ein viel ärmlicheres, erbärmlicheres, jämmerlicheres Ding, und sie verunziert wahrhaft die herrlichen Gärten und kostbaren Fronten der kaiserlichen Pallastbauten.
Es kostete die Arbeit von zwei Morgenstunden, und sie wäre abgedeckt, rasirt: kein Splitter, kein Stein zu sehen.
     Aber sie steht seit Uralters, Generationen haben darin sich abgelöst und werden sich noch darin ablösen und sie wird wahrscheinlich bestehen, so lange, als das ottomannische Reich.
Haben die Türken so wenig Schönheitssinn, hat kein Sultan soviel Geschmack, das elende Ding abtragen zu lassen?
     Keineswegs. Der gegenwärtige Sultan hat darin sein Aergerniß so gut als seine Vorfahren. Er möchte sehr gern die fatale Hütte niederreißen, abbrennen, in die Erde versenken lassen.     
     Aber er kann es nicht.
     Wer verbietet es dem unumschränkten Gebieter, dem Herrn über Leben und Tod seiner Millionen Unterthanen, dem Reformator seines großen Reiches, dem Ueberwinder, Vernichter, Mörder der Janitscharen?
     Nur ein altes Weib, dem die Hütte gehört. Sie und ihre Söhne, Handwerksgesellen, lumpiges, armes Volk, wohnen darin und wollen ihre Hütte und den Grund und Boden, darauf sie steht, nicht verkaufen – aus purer Caprice. Sie lachen den Janitscharenüberwinder an, wenn er ihnen doppelt, dreifach den Werth bietet und sagen: Nein!
     Nun so kann der Herr über Leben und Tod die Leibwache aussenden, und die thörigte Frau stranguliren, die trotzigen Burschen köpfen lassen.
     Gewiß, das kann er nach Recht und Gesetz, und es kräht kein Hahn danach. Sieben Köpfe stehen dem Grußsultan täglich zu Gebot; es braucht kein Urtheil, es ist sein Deputat; nur wenn er mehr will, muß er prozessiren lassen.
     So ist es Muhamed´s specielle Großmuth; er hat keine Lust am Kopf der alten Frau.
     Vielleicht. Er ist großmüthig; er hat wirklich während seiner Regierung von jenem uralten Rechte keinen Gebrauch gemacht und Niemand hängen, spießen, würgen lassen, der es nicht einigermaßen verdient hätte; aber es hilfe ihm auch nichts. Wenn die alte Frau todt ist, sind ihre Söhne Erben; wenn auch diese, deren unmündige Kinder. Sollte er es wagen, auch die zu tödten, was sich nicht so leicht thun läßt, treten deren nächste Verwandten als Erben ein. bKurz, er kann ein Paar tausend Menschen schlachten und ersäufen lassen, was im Orient nicht viel sagen will, aber das Haus und den Boden kriegt er drum doch nicht.
Aber wer um´s Himmels willen hindert den Autokraten? – Ist da ein Reichskammergericht, ein Geheimes Obertribunal, an das sich der Müller von Sanssouci wenden konnte?
     Nichts von dem.
     Nun wie heißt der Tribunal in der Türkei, vor dem selbst der Sultan erblassen muß?
     Die öffentliche Meinung!
     In der Türkei!
Ist sie so mächtig, wie in keinem Staate, wo es Zeitungen und feile Publicisten giebt, denn sie ist nicht das Produkt der Parteienerhitzung und Parteienränke, nicht das Phantom des Pöbels, nicht das Project der Studirten, sondern die Stimme des wahren rechten Volkes. Da wo sie hinreicht, ist sie allgewaltig. Die Wege durch das große Reich sind nur noch zu schlecht.
 
Aus dem Grimmaischen Wochen- und Anzeige-Blatt vom Sonnabend, dem 13. December 1834