DDR-Alltag in Bild und Bericht

Hans-Jürgen Horn (Hrsg.) – „Unser täglich Brot – Alltag in der DDR“ / Tilo Köhler – „Seht wie wir gewachsen sind“

von Frank Becker

         

Hans-Jürgen Horn (Hrsg.) – „Unser täglich Brot – Alltag in der DDR“
 

Tilo Köhler – „Seht wie wir gewachsen sind“



Auferstanden aus Ruinen
 
Es war einmal, im Oktober 1949, keine fünf Jahre nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs, da wurde im russischen Sektor des besetzten und geteilten Deutschland mit Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht an der politischen Spitze die bis 5. März 1953 eisern stalinistische „Deutsche Demokratische Republik“ gegründet. Man ging, mal abgesehen davon, daß diese Republik ja eigentlich schon von der Definition her keine war und demokratisch schon gar nicht, ans Werk, wollte etwas Neues schaffen, das Land und seine Städte wieder aufbauen. Das ist aller Ehren wert und die Einwohner dieses durch russische Reparationen geplünderten Staates taten es mit viel Energie und Hoffnung. Daß dieser Staat zugleich aber auch sehr bald deutlich gleichgeschaltete uniformierte Züge der eben überwundenen NS-Dikatur zeigte: Freie Deutsche Jugend, Junge Pioniere, Betriebskampfgruppen, Kasernierte Volkspolizei, Grenztruppen, Wachregiment Feliks Dzierzynski, Nationale Volksarmee, Ministerium für Staatssicherheit usw. usw. darf jedoch nicht übersehen werden. Dazu ein persönliches Streiflicht: Als ich als dreijähriger Steppke vom Fenster der elterlichen Wohnung in Ost-Berlin aus einen uniformierten Aufzug der Jungen Pioniere sah und voller Begeisterung zu meiner Mutter sagte: „Mutti, Mutti, ich will auch zu die Punieren“, beschlossen meine durch die Nazizeit gewarnten Eltern die Flucht in den Westen der Stadt. Das taten sie dann auch bei Nacht und Nebel. Daß später die StaSi zweimal versuchte, meinen Vater zurück in den Osten zu entführen, ist eine andere Geschichte…

Die Bürger fügten sich jedenfalls voller Hoffnungen auf ein späteres Gelingen des doch positiv klingenden sozialistischen Staatsprojektes in die Planwirtschaft und leisteten viel – bis 1954, als aus einem Streik der Bauarbeiter Berlins gegen erhöhte Normen ein Volksaufstand wurde, den die „demokratische“ Regierung der DDR durch russische Panzer niederwalzen ließ. 1968 half sie übrigens mit ihren DDR-Panzern den Russen das Nämliche in der Tschechoslowakei zu tun. Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.
 
Hier liegt nun ein (be)rührender Band voller fotografischer Erinnerungen der bürgerlichen Sonnenseite und der sozialistischen Arbeitswelt längst vergangener Jahre vor, festgehalten in über 200 privaten Aufnahmen, die ein lebendiges Bild der Menschen, ihrer Heimat und ihrer Lebensbedingungen im Osten Deutschlands zwischen 1949 und 1959 zeichnen. Denn darin unterschieden sich die DDR-Bürger nicht im geringsten von den Bürgern der BRD (die nebenbei auch aufrüstete, aber auf Gleichschaltung verzichtete und wirklich freie Wahlen abhielt). Fotografien aus Schule, Familie und Beruf, von Feiern, Ferien und Sport, Bilder vom bescheidenen ersten Wohlstand im kleinen Rahmen – all das zeigen die privat geschossenen Bilder. Strandurlaub an der Ostsee, die große Schultüte bei der Einschulung, das Klassen- und das Ferienlager-Foto, die stolzen jungen Pioniere (s.o.) mit Halstuch, Kinder und Große, im Kleingarten oder am Arbeitsplatz, am HO-Kiosk oder im P8 – und wer Glück hatte, konnte auf einem Schnappschuß den legendären Radrennfahrer Täve Schur verewigen.
 
Hans-Jürgen Horn (Hrsg.) – „Unser täglich Brot – Alltag in der DDR“
Fotografien 1949-1959
© 2015 BEBUG / Verlag Bild und Heimat, 144 Seiten mit vielen Schwarz/Weiß- und einigen Farb-Bildern, Broschur, im Anhang eine Chronik der Ereignisse von 1949-1959 - ISBN 9783867894401
9,99 €
 
Zur ergänzenden Lektüre empfiehlt sich Tilo Köhlers „Seht wie wir gewachsen sind“:
»Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt«, heißt es in der ersten Strophe der DDR-Nationalhymne (von Johannes Erbrecher, wie mein Berliner Onkel Lutz immer sagte). Dieser Vers faßt wie wenig andere die Anfangsjahre des Arbeiter-und-Bauern-Staates zusammen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Sozialismus im Osten Deutschlands voranzutreiben. Große Bauprojekte sind in dieser Frühphase entstanden. Drei von ihnen stellt Tilo Köhler exemplarisch in den Mittelpunkt seiner literarischen Exkursion: die Stalinallee, Prachtstraße Ostberlins, die heute Karl-Marx-Allee heißt und die Stärke und Ingenieurskunst der DDR repräsentierte; Stalinstadt, heute Eisenhüttenstadt, die erste Reißbrettstadt, die lange Zeit als Musterbeispiel des Sozialismus galt und den Weg in eine neue Ästhetik wies; und schließlich die Stalinwerke, die den »Neuen Menschen« als Werkstätte dienten und den Aufschwung eines Landes markierten, das es vierzig Jahre später nicht mehr geben sollte. Kurzweilig, kenntnisreich und mitunter kurios ist das, was Köhler über die Anfangsjahre der DDR zusammengetragen hat. Eine feinsinnige und pointiert geschriebene Kulturgeschichte, die durch ihren Sprachwitz und ihren Reichtum an Details zu bestechen weiß. Großes Lesevergnügen!
Diesen kursiv gesetzten treffenden Text habe ich mir einfach mal vom Verlag ausgeliehen. Knapp formuliert trifft er den Inhalt der Trilogie, die jetzt erstmals in einer preiswerten Sonderausgabe in einem Band zu haben ist. Mir fielen dabei zwei DDR-Flüsterwitze aus der Stalin- und Nach-Stalin-Ära ein:
Ein Funktionär führt einen Wohnungsaspiranten durch ein neu erbautes Wohngebäude der Stalinallee und bittet den Genossen in einem Raum zu warten, während er in den Nebenraum geht. Vor dort ruft er: „Jenosse, kannste ma hören?“ – „Ja“, kommt die Antwort. - „Jenosse, kannste ma sehen?“ – Die spontane Antwort: „Nee“. – „Na, wat sachste, Jenosse, det sind Wände!“
Nach dem Krieg wurde die frühere Frankfurter Allee in Ost-Berlin 1949 in Verehrung des großen Genossen Josef Wissarionowitsch Stalin zu seinem 70. Geburtstag natürlich in Stalinallee umbenannt. Nach seinem Tod 1953 zur persona non grata geworden, mußte der Name wieder dem ursprünglichen weichen. Danach erzählte man sich von einem Straßenbahnschaffner, der die entsprechende Haltestelle so ausrief: „Frankfurter Allee, früher Stalinallee, früher Frankfurter Allee!“. Man mußte beim Erzählen solcher Witze schon etwas vorsichtig sein. Nebenbei: der oben erwähnte Volksaufstand in der DDR nahm am 17. Juni 1954 seinen Anfang bei den Bauarbeitern der Stalinallee.
 
Tilo Köhler – „Seht wie wir gewachsen sind“
Eine kurzweilige Geschichte der frühen DDR
© 2015 BEBUG / Verlag Bild und Heimat, 344 Seiten, Paperback, mit vielen s/w-Fotos im Text - ISBN 9783867892018
14,99 €
 
Beide hier vorgestellten Bücher sind hervorragende Zeitdokumente der deutschen Geschichte. Wer in der DDR gelebt hat oder wer diesen Staat und seine Bevölkerung endlich einmal intimer kennenlernen möchte, ist gut beraten, sich diese Bücher zuzulegen.
 
Weitere Informationen:  www.bild-und-heimat.de