Der Schritt

von Karl Lerbs

© 1957 Carl Schünemann Verlag
Der Schritt
 
Wir hatten in der Familie eine Urgroßtante. Sie war neunzigjährig, weißhaarig, verrunzelt, halb blind und halb taub, aber bolzengerade und von bezwingender Würde: ehrfurchtgebietende Ahne von Generationen, Enkel überdauernd.   
Wir saßen im lauen Helldunkel eines Juniabends in der Glasveranda meines elterlichen Hauses und plauderten gedämpft. Die Tante saß dabei, bolzengerade und von bezwingender Würde, ehrfurchtgebietende Ahne von Generationen, Urmutter, ragendes Symbol. Die Tante schwieg.  
Da nahte auf der Straße ein rascher, trippelnder Schritt, ein grauer Schatten huschte eilig an den Häusern hin. Die Tante beugte sich ein wenig vor, ein seltsames Lächeln voll geheimnisreicher Weisheit blühte auf in ihrem faltigen Gesicht. Und sie sprach (es waren an diesem Abend ihre ersten Worte): 

„Da geht eine Hebamme.“ 

Wir sprangen auf, sieben Hälse reckten sich neugierig über die Brüstung. Wozu Viele Worte machen? Es war eine Hebamme. Wir kannten sie alle; sie wohnte in der Nachbarschaft.  
Ehrfurchtsvoll, tief angerührt vom ewigen Geheimnis einer unbegreifbaren ahnenden Verbundenheit, sahen wir auf die Tante. Sie saß still, ihre hellen halbblinden Augen sahen in irgendeine Ferne. Sie sprach an diesem Abend kein Wort mehr.
 
 
Karl Lerbs