Das etwas andere Neujahrkonzert

In der Philharmonie Essen am 3. Januar mit Begeisterung gehört

von Peter Bilsing

Das etwas andere Neujahrkonzert
für Junge & Junggebliebe

„NEUJAHRSWAHNSINN“ in der Essener Philharmonie mit Werken von Antheil, Bernstein, Gershwin, Strawinsky, Schwitters und Weill – Begnadeter Jahresauftakt am 2.1.2008

Heinz Karl Gruber ist ein Unikum, eine besonders sympathische Persönlichkeit, die sich nicht nur um die zeitgenössischen Musikszene Österreichs realiter verdient gemacht hat. Eine bunt schillernde Persönlichkeit mit Wiener Charme und Schmäh, aber kein „Berufswiener“, wie er spitzbübisch im dem Konzert vorgeschalteten Smalltalk mit dem Philharmonie-Intendanten Michael Kaufmann erklärte. Der 1943 in Wien geborene ehemalige Sängerknabe spielte fast 30 Jahre als Kontrabassist beim Wiener Radio-Sinfonie-Orchester, ist seit 1961 im legendären Wiener Ensemble „Die Reihe“ tätig und wurde dort im Jahre 1983 Nachfolger von Friedrich Cerha. 1968 gründete HK Gruber mit Kurt Schwertsik und Otto M. Zykan ein weiteres in zeitgenössischer Musik mit kabarettistischen Einlagen und instrumentalem Theater erfolgreiches Ensemble „MOB art und tone ART“.

Gruber nennt sich frech Chansonnier, Komponist und Dirigent – zu Recht, was das von der wirklich einmaligen, kühnen Programmstruktur des Neujahrskonzertes begeisterte Publikum euphorisch bestätigen wird. Gestern hielt sich der ehemalige Essener Residence-Künstler (2004/5) aber mit eigenen Produktionen zurück und offerierte mit humorvoller Moderation eine Spielwiese des exotischen frühen 20.Jahrhunderts: Antheil, Bernstein, Gershwin, Schwitters, Strawinsky, Weill. Bis auf „Rhapsody in Blue“ alles sicherlich dem Gros des Publikums völlig unbekannte Werke.

Wer so etwas auf den Konzertplan setzt, ist mutig. Michael Kaufmann erklärte, daß er ein solch „alternatives Neujahrkonzert“ zukünftig regelmäßig initialisieren möchte. Es ist zu hoffen, daß ihm das Publikum folgt, denn brillanter, lehrreicher, unterhaltsamer und augenzwinkernd charmanter kann man auf musikalischer Seite kaum ein neues Jahr beginnen. Die Essener Philharmonie entwickelt unter Kaufmann ein unverwechselbares Profil, welches in seiner verantwortungsvollen Didaktik, Programmgestaltung und Qualität mittlerweile durchaus einen Spitzenplatz in Europa für sich beanspruchen kann.

Chronologisch: Die Programmeröffnung erfolgte mit Teilen aus Schwitters „Ursonate“ (1922). In dem fast 10-minütigen Vokal- und Wort/Ton-Kaskaden-Gewitter übernahm Gruber selbst die Solistenrolle des Performance-Künstlers. Die Grenze zwischen sprachlicher und musikalischer Komposition ist hier aufgehoben. Das Ganze ist schwer zu beschreiben und man kann konservative Zeitgenossen verstehen, die solche Stücke lieber hinter den Pforten einer geschlossen Anstalt sähen. Aber wer sich einmal darauf einläßt, wird herrlich humorvoll unterhalten. Schwitters selbst hatte dafür eine eigene Notenschrift mit Zahlen und Urlauten entwickelt. Auch ich bin mir nicht sicher, ob dieses Werk unter „Genie“ oder „Wahnsinn“ einzubuchen ist, könnte es mir aber durchaus als regelmäßige Silvesterveranstaltung mit Kultstatus (ähnlich „Dinner for One“) vorstellen.

George Antheil, 1920 in den USA geborener Sohn deutscher Auswanderer, gilt als der amerikanische „bad boy of music“ (so auch der Titel seiner Biografie), der in den zwanziger Jahren seine wildeste Zeit in Paris auslebte. Seine Konzerte wurden u.a. mit Flugzeugmotoren, elektrischen Klingeln und Feuerwehrsirenen dekoriert. Wobei es immer öfter zu Tumulten und Schlägereien kam, denen Antheil stellenweise dadurch begegnete, daß er die Türen verriegeln ließ und demonstrativ mit den Worten „Achtung, ich bin bewaffnet!“ seinen Revolver aufs Klavier legte. Später komponierte er Filmmusiken, Opern und meldete ein funkgesteuertes Torpedo zum Patent an. Zusammen mit Hedy Lamar erfand er das Frequenzsprungverfahren, eine Technologie, die heute in der Mobilfunktechnik (GSM) und bei drahtlosen Netzen nach dem Industriestandard IEEE 802.11 Verwendung findet. Auf dem Programm stand seine „Jazz Symphony“ in der Ensemble-Fassung von 1955 und die „Jazz Sonata für Kammerorchester“ von 1932; recht friedliche Werke.

Mit Kurt Weill ging es nun etwas populärer und in ohrenfreundlich gewohnteren Klangbahnen weiter. Gruber hatte einen Programmteil mit Ausschnitten aus der Ballettpantomime „Zaubernacht“ und dem Musical „Lady in the Dark“ gestaltet. Es weiß wohl nur der Teufel allein, warum dieses wunderbare Musical nicht nur hierzulande kaum jemand kennt und aufführt, obwohl es (UA 23.1.1941 – Alvin Theatre) mit fast 500 Aufführungen en suite zu den erfolgreichsten Stücken der Broadway-Historie gehört. Allroundtalent Ute Gfrerer ist sicherlich auf dem Weg, eine der ganz großen Weill-Interpretinnen dieser Welt zu werden. Zeitweise im Duett mit Gruber bezauberte sie ihr Publikum auf Broadway-Niveau. Wir freuen uns darauf, demnächst mehr von ihr zu hören, und man wird noch viel von ihr hören, da bin ich sicher. Merken Sie sich unbedingt diesen Namen!

Gershwins „Rhapsody in blue“ in der großen schmalzigen Orchesterfassung kennt jeder, aber wer kennt die ursprüngliche Jazz-Band-Fassung (Grofé/Whiteman) von 1924? Alle Besucher des gestrigen Konzerts gehören nun zu den Auserwählten, die in den Genuß dieser einmaligen Interpretation kamen. Geradezu irrwitziges Tempo – HK Gruber sprach davon, daß man sich der auf Tonträgern noch vorhandenen Originaleinspielung von Gershwin angepaßt habe – furiose Bläserattacken und rhythmische Brillanz ließen dem Zuhörer kaum Luft zum Atmen. Und was Ueli Wiget am Piano zauberte, gehört eigentlich ins Fabelreich…ungeheuerlich! Ich gebe zu, daß ich das Auftakt-Klarinetten-Glissando selten so betörend gehört habe, wie von Nina Janssen, die uns auch im Folgenden noch mit Ihrer Spielkunst förmlich von den Stühlen riß – als wenn der legendäre Chester Hazlett es live gespielt hätte. Das war Weltklasse!

Daß Strawinskys Cool-Jazz „Ebony Concerto“ von 1945 als kreislaufberuhigender Zwischentitel eingebaut wurde, bewies programmdidaktische Intelligenz, denn mit Lenny Bernsteins „Prelude, Fugue & Riff“ von 1949 wurde der Adrenalinpegel des enthusiasmierten Publikums beim finalen Stapellauf noch einmal auf gefährliche Grenzwerte gepusht. Das Ensemble Modern spielte derartig auf, daß es dem Engel Lenny B. sicherlich ein „Dacapo“ entlockt haben muß. Sie glauben nicht an Engel? Ich mittlerweile doch wieder, denn dies war ein von jazzigen Engelsflügeln getragenes Konzert. Selten befand sich der Rezensent in einem derartigen Musikhimmel. Was für ein Abend…

Beseelt und glücklich grüße ich alle Musenblätter-Musikfreunde und wünsche Ihnen nur solch herrliche Abende im Neuen Jahr 2008 wie den gestrigen.              


Ihr Peter Bilsing