Nix für Schisser

Nora Gomringer – „Morbus“

von Frank Becker

Nix für Schisser
oder
An neuen Seuchen
mißt sich die Menschheit
 
 
Anopheles, komm, Kleinvieh!
Mach Mist von dieser Art: Bereite lange Fiebernächte,
wirre Träume, Schübe in Delirien, mach Tropen Thema,
wo vornehme englische Kälte herrscht…
(aus: Mala Aria)
 
Feige war Nora Gomringer noch nie, ihre originellen, oft komischen, sprachlich stets virtuosen und wie zuletzt bei ihren „Monster Poems“ ordentlich zulangenden, gelegentlich durchaus aggressiven Gedichte sind von eigenem hohem Rang. Grund genug, sich mit viel Neugier und einem gehörigen Vorschuß an Wohlwollen ihrem jüngsten Gedichtzyklus „Morbus“ zu nähern. Soviel schon hier: der Vorschuß zahlt sich aus. Von Reinmar Limmer brillant illustriert tut sich nämlich ein einzigartiger lyrischer Kosmos von Widerwärtigkeiten auf, schwelgerisch in wohlgesetzte Verse gefaßt, kaum etwas von dem auslassend, was andere allzu gerne vermeiden. Man redet nicht gerne darüber (wer spricht schon über seine Syphils, Demenz oder Depression), es sei denn, das Schlimme finde weit genug weg statt. Ebola in Westafrika, Lepra in Indien, Pest im Mittelalter. Was ausgestorben scheint, kommt immer mal wieder mit verheerenden Folgen zum Vorschein, schließlich züchten geheime Labore in aller Welt die gräßlichsten Erreger als Kampfstoffe, wenn auch das Schild „Forschung“ plakativ hochgehalten wird.
 
Von Adipositas und AIDS bis Typhus und Wahnsinn spannt Nora Gomringer einen unerhört kompetenten Bogen über die bakteriellen und virologischen Geißeln unserer Zeit und der Vergangenheit. Wer hätte je zuvor ein Gedicht über Ebola, Krebs, Herpes oder die Pest geschrieben, wer die Syphilis, Karies oder Alzheimer zum Gegenstand seiner Lyrik gemacht? Wer hätte je den Mut dazu gehabt? Nora Gomringer hat ihn. Und: nein, diese Abrechnung  mit den Seuchen unserer Zeit ist nichts für Schisser, denn sie macht keine Hoffnung auf Besserung, stellt die Unvernunft und Maßlosigkeit des Menschen ins grelle Licht ihrer Texte.
 „Pfui Teufel!“ höre ich einige sagen. Doch bitte: lesen Sie erst einmal selbst und hören sie von der beiliegenden CD Nora Gomringers nüchtern-eindringliche Stimme ihre Gedichte lesen. Sie nimmt dem Schlimmen keineswegs den Schrecken, sie gibt ihm ein Gesicht, ein Wesen, macht ihn in der Schlichtheit der klaren Betrachtung noch schrecklicher.
Reinmar Limmer hat zu jedem der 25 Texte ein kongeniale Graphik, Collage, Montage oder Zeichnung beigesteuert, da lebt eins vom anderen, pointiert es wechselweise. „Morbus“ - ein grandioses Panorama des real existierenden Grauens. Ein abermals mit unserem Musenkuß auszuzeichnender Lyrik-Band. Nur bitte ich, bei einer Neuauflage Matthias Claudius richtig zu zitieren: „Kalt ist der Abendhauch. / Verschon uns, Gott! mit Strafen, / Und laß uns ruhig schlafen! / Und unsern kranken Nachbar auch!“
 
Ich bin der Virus, der wie alle Viren
euch erzieht, versteht mich richtig.
Ich bin der Bückling, öffne Türen, halte
offen sie für allerlei Besuch.
(aus: Erzieher / AIDS)
 
Nora Gomringer – „Morbus“
© 2015 Voland & Quist, 64 Seiten, Broschur – mit einer CD von 27:52 Minuten Spieldauer, Illustrationen von Reimar Limmer

Zur begleitenden Information empfohlen: das Weltquartett „Seuchen“
 
Weitere Informationen:  www.voland-quist.de  -  www.nora-gomringer.de