Der alte Mann 6

von Erwin Grosche

Foto © Frank Offermann / pixelio.de

Der alte Mann
6
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren.
    Die Stadt glänzte im Sonnenlicht, und jeder Schritt war eine Freude. Er wollte gerade die Kasseler Straße überqueren, um im Eiscafé „Venezia“ einen Kaffee zu trinken, als ihm ein Bus entgegenkam.
    „Kommst Du müde von der Feier, fahr mit Taxi Hermesmeyer“ konnte er gerade noch auf dessen Heck lesen, bevor der Bus in die Giersstraße einbog und verschwand. Er kannte diesen Vers. Jeder Paderborner hatte schon mal hinter einem Hermesmeyer-Bus gestanden und sich staunend diesen Reim gemerkt - aber war das schon Poesie? Sicher, die Botschaft erfreute das Herz und beruhigte das Gemüt vor jeder Feier, aber suchte Poesie nicht auch nach Wahrheit und hatte die Kraft, uns an die Schönheit des Lebens zu erinnern?
„Ostern findet man gern Eier, such im Taxi Hermesmeyer“, kam es dem alten Mann plötzlich in den Sinn. Er mußte lachen. Hermesmeyer hatte noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, auf seine Dienste hinzuweisen.
    „Fährt nach Paderborn der Bayer, bucht er Taxi Hermesmeyer“, murmelte er wie aufgedreht vor sich hin. „Was haben sie gesagt?“, fragte eine Frau mit roten Haaren, die gierig an einer Zigarette zog. Sie stand vor der Eisausgabe des „Venezia“ und suchte nach einem freien Platz. Im Eiscafé war jeder Platz besetzt. Sogar Patienten des St. Vincenz-Krankenhauses nutzten den Sonnentag, um der Enge ihrer Sorgen zu entfliehen. Der alte Mann errötete. Hatte er wieder mit sich selbst gesprochen? Er mußte aufpassen, wenn er nicht auffallen wollte.
    „Ich habe nur gedichtet“, sagte der alte Mann. „Ich habe nur gedacht, daß Taxi Hermesmeyer an seinem Auftreten arbeiten sollte. Kennen sie Hermesmeyer?“ Die Frau mit den roten Haaren nickte. „Immer nur die alte Leier, jeder träumt von Hermesmeyer“, flüsterte sie und zog wieder gierig an ihrer Zigarette. „Genau“, sagte der alte Mann. Er hatte einen freien Platz direkt vor der Eisausgabe entdeckt und zog seinen Hund zu dem Tisch. Die Frau mit den roten Haaren folgte ihm und bückte sich nach der Eiskarte. „Es gäbe noch mehr zu dichten“, sagte der alte Mann „Der mit Hut und die mit Schleier, fahrt mit Taxi Hermesmeyer“.“
    Die weibliche Bedienung des Cafés, die gerade einen Erdbeer-Eisbecher auf den Nachbartisch stellte, mischte sich ein: „Schräge Vögel und auch Geier, lieben Taxi Hermesmeyer.“ Die Frau mit den roten Haaren klatsche begeistert in die Hände. Der Dichterwettstreit hatte begonnen. Wie leicht der Mensch zu einem Spiel zu verführen ist, wenn die Sonne lacht und die Muse küßt.
    Der alte Mann streichelte seinen Hund. Krampfhaft suchte auch er nach einem neuen Reim. So leicht wollte er sich nicht geschlagen geben. Endlich fiel ihm der alle erlösende Satz ein: „Auch Herr Bürgermeister Dreier fährt mit Taxi Hermesmeyer.“ Alle stöhnten auf. So ein Gedicht wäre unter Bürgermeister Paus nicht möglich gewesen. Dreier und Hermesmeyer. Alles veränderte sich in Paderborn. Auch die Frau mit den roten Haaren hatte nun einen freien Platz ergattert. Sie warf ihre Zigarette auf den Boden, lief zu dem Tisch und rief: „Was steht heute auf dem Flyer, fahr umsonst mit Hermesmeyer.“ Sie setzte sich mit einem Seufzer auf den Stuhl und winkte dem alten Mann zu. Er winkte zurück.
    Die Bedienung kam an seinen Tisch und fragte nach seinen Wünschen. Der alte Mann bestellte sich einen Kaffee. „Darf ich sie mal was fragen“, sagte sie plötzlich. „Nur zu“, sagte der alte Mann. „In Paderborn weiß man auf alles eine Antwort.“ Die Bedienung druckste ein wenig herum, bis sie schließlich damit heraus platzte: „Ist das noch Poesie?“ Der alte Mann schaute sie erstaunt an. „Dieser Spruch von Hermesmeyer“, wurde die Bedienung deutlicher. „Kommst Du müde von der Feier, fahr mit Taxi Hermesmeyer. - Ist das noch Poesie?“ Der alte Mann setzte seine Sonnenbrille auf. Er konnte sonst die Bedienung sonst nicht ansehen ohne zu blinzeln. „Natürlich ist das Poesie“, sagte er. „Gerade wenn es spät ist und man müde von einer Feier kommt. Und dann steht da plötzlich ein Taxi und bringt dich nach Hause. Das ist Poesie.“ Die Bedienung bedankte sich und ging zurück ins Eiscafé. „Gibt's nach der Party ein Gereier, riecht´s im Taxi Hermesmeyer“, rief plötzlich die Frau mit den roten Harren von ihrem Platz her. Der alte Mann lachte und gab seinem Hund den Keks, den die Bedienung mit dem Kaffee gebracht hatte.
 
 

© 2015 Erwin Grosche