Mina

Eine Erinnerung an Eduardo Hughes Galeano

von Herman Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Mina

Eine Erinnerung an Eduardo Hughes Galeano
Gestorben am 13. April 2015 in Montevideo
 
Von Hermann Schulz
 
Auf einem literarischen Kongress in Costa Rica 1972 drückte mir am ersten Abend ein mir unbekannter Autor aus Uruguay sein neues Buch in die Hand. „Vielleicht kannst Du mal reingucken …“
Ich las große Teile des Buches noch in der gleichen Nacht. Am nächsten Morgen besprach ich mit dem Autor, Eduardo Galeano, den Vertrag für die deutsche Ausgabe, die dann 1973 unter dem Titel „Die offenen Adern Lateinamerikas“ erschien. Ich war damals jung und neugierig, wollte Lateinamerika erobern und mit meinen Entdeckungen die Welt in Erstaunen versetzen. Meine Leidenschaft für tolle Bücher war allerdings weitaus größer als meine professionellen Erfahrungen als Verleger. Ich leitete nur einen kleinen Verlag, der gerade seine ersten Schritte in die weite Welt wagte. Wir ließen uns beide auf Abenteuer ein, weil wir uns sympathisch fanden.
Es dauerte einige Jahre, bis ein größeres Publikum das Buch entdeckte, und Heinrich Böll in einem bewundernswerten Alleingang in Köln eine seiner Lesungen dazu mißbrauchte, 15 Minuten lang aus Galeanos Buch zu lesen und es anzupreisen. Die Absatzzahlen schossen in Höhen, von denen ich kaum zu träumen wagte. Es ist heute, nach mehr als 40 Jahren, immer noch erfolgreich.
 
Fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe besuchte mich Eduardo in Wuppertal. Wir wollten den Plan eines neuen Werkes besprechen, dazu brauchten wir Ruhe und Zeit.
Wir suchten ein Restaurant auf, redeten, aßen, machten Witze und erzählten Anekdoten, dann ging es weiter mit seinem großen Plan eines dreibändigen Werkes. Dazu tranken wir, wie es sich für Autoren und junge Verleger gehört, guten Whiskey.
Es wird gegen Mitternacht gewesen sein, als der Kellner uns auf die Straße setzte. Ich schlug vor, im Nachtclub „Sir Henry“ einzukehren. Dort würde man unsere Gespräche nicht mit spießigen Ladenschlußhinweisen unterbrechen.
Der Gästeraum lag im Halbdunkel. Als wir eintraten und uns umsahen, flammten alle Lichter auf. Wir wurden von zwei, drei sehr freundlichen, leicht bekleideten Damen des Hauses begrüßt und an einen Tisch geführt. Wir waren die einzigen Gäste. Als sie bei uns Platz nehmen wollten, lehnten wir freundlich ab, wir hätten viel zu bereden, und das würden sie nicht verstehen, weil wir Spanisch sprechen würden. Wir bestellten ihnen eine Flasche Champagner und sie blieben fröhlich trinkend an der Theke.
Eduardo und ich redeten, diskutieren, der Plan gewann mit jedem Glas Whiskey wunderbare Konturen. Da wurde plötzlich die kleine Bühne erleuchtet. Vorne, am Rand der Tanzfläche, standen zwei kniehohe Säulen in griechisch-römischen Stil, und darauf je ein Topf mit blühenden Geranien.
Wir sind wirklich in Wuppertal, dachte ich, arrogant, wie junge Verleger eben sind. Eine der Damen begann zu leiser Musik einen gewagten Striptease. Eduardo stieß mich an: „Du mußt ab und zu mal hinsehen! Das ist ihr Beruf, und so schlecht ist sie gar nicht! Sie hat unsere Beachtung verdient!“ Er war immer ein freundlicher Mensch, und wußte, was sich gehört.
Wir applaudierten denn auch heftig, als die Dame zum Ende kam und eine Kollegin ihre Vorstellung begann. Auch diese Dame gab sich redlich Mühe, was wir sogar hin und wieder mit Zwischenapplaus quittierten.
Die dritte Dame, ein wenig fülliger als die anderen, bot uns eine echt Bergische Version von Striptease. Da passierte ein Unglück: Sie warf, schon weitgehend entkleidet, mit ihrem Hintern eine der Säulen um. Der Blumentopf zerbrach krachend auf der Tanzfläche. Überall Blütenreste und Erde! Ich wollte sogleich nach Handfeger und Kehrblech eilen, aber das verhinderten die Damen: Ich sei Gast und der nächste Whiskey ginge auf Rechnung des Hauses! Dann entspann sich ein Gespräch:
Eduardo: „Hören Sie, Lilly! Könnten sie mit der Vorstellung aufhören? Wir haben Wichtiges zu bereden!“
Lilly: „Waren wir nicht gut? Hat es euch nicht gefallen?“
„Doch! Sehr sogar“, beteuerte Eduardo. „Hermann und ich sind beide viel herumgekommen in der Welt. So etwas Gutes sieht man heute nur noch in Rio de Janeiro oder Paris! Aber wir haben Wichtiges zu bereden. Trinken Sie noch eine Flasche Champagner auf unsere Rechnung!“
Beruhigt zogen sich die Damen an die Theke zurück; wir redeten weiter, bis wir uns um drei Uhr früh, nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, auf den Weg zum Hotel machten.
In der Fußgängerzone umarmte Eduardo die lebensgroße Figur der Mina Knallenfalls, nicht ohne mit den Händen zu prüfen, ob anatomisch alles an der richtigen Stelle war. Ich erklärte ihm mit schwerer Zunge, das sei ein Dienstmädchen im 19. Jahrhundert gewesen, alle Menschen hier würden sie und ihren Humor lieben.
 
Drei Jahre später erschien der erste Band jenes Werkes, das wir zwischen Essen und Trinken, Striptease und Tröstungen für diensteifrige Tänzerinnen geplant hatten. „Erinnerungen an das Feuer“ war der Titel.
Weitere Jahre vergingen, inzwischen waren die Bücher Eduardo Galeanos in der ganzen Welt verbreitet und er ein berühmter Autor. Der Deutsche evangelische Kirchentag lud ihn zu Lesungen nach Leipzig ein. Wir freuten uns beide auf das Wiedersehen, denn ich würde ihn begleiten.
Wenn man berühmt ist, muß man auch die Folgen tragen! Eduardo wurde zu einem Gespräch mit dem neuen Oberbürgermeister der Stadt und seinen Kulturleuten eingeladen.
„Müssen wir das machen?“, fragte er mich mißgelaunt.
„Ist vielleicht besser, wir akzeptieren das“, sagte ich. „Die sind ja nach der Wende noch unsicher. Sie könnten sonst verletzt sein.“
Das Gespräch im Rathaus verlief wie fast alle offiziellen Gespräche in Rathäusern: freundlich, ehrerbietig, allgemeine Fragen nach Lateinamerika, nach seinen Plänen als Autor, und so weiter. Eduardo gab gutwillig seine Antworten.
Dann schlug der Kulturdezernent vor, Galeano und seinem Verlegerbegleiter mit einem Dienstwagen das Völkerschlachtdenkmal zu zeigen, das sei wirklich eine Sehenswürdigkeit!
Galeano sah mich fragend an und ich flüsterte: „Das ist ein klotziges Ding, wegen dem Sieg über Napoleon!“
„Ist es schön?“
„Nein! Im Gegenteil!“
Da sagte Galeano, sehr freundlich an die Herrschaften gewandt:
„Wissen Sie, das ist nett von Ihnen. Aber ich kann Denkmäler nicht ausstehen, nirgendwo auf der Welt. Sie verherrlichen nur die vermeintlich großen Taten der vermeintlich großen Männer …“ Kleine nachdenkliche Pause. „Bei allen meinen Reisen habe ich nur ein Denkmal gesehen, das ich akzeptieren kann. Das steht in Wuppertal …. Hermann, wie heißt die Dame noch mal?“
„Mina Knallenfalls!“
Die kleine städtische Besatzung guckte mich ratlos und neugierig an. Da erzählte ich, ob sie es hören wollten oder nicht, ausführlich von diesem Wuppertaler Dienstmädchen. Woran ich mich nicht mehr erinnerte, füllte ich an mit Szenen aus Robert Wolfgang Schnells Werken, bot also ein komplettes Soziogramm bergischer Kultur. Niemand wagte, mich zu unterbrechen.
Dann waren wir aus dem Rathaus entlassen, erleichtert wie immer, wenn wir eine Verpflichtung hinter uns gebracht hatten, ob im Sir Henry oder im Rathaus von Leipzig oder sonst wo auf der Welt.
 

(Hermann Schulz, ehem. Leiter des Peter Hammer Verlages. Lebt als Autor von Kinder- und Jugendbüchern in Wuppertal)