Zu weit geritten

Eine Kriminalnovelle

von Dorothea Renckhoff

Foto © Frank Becker

Zu weit geritten


Beim Adagio cantabile spürte sie plötzlich wieder den nassen Rock. Und darunter, direkt auf der Haut, an Stelle schützender Wäsche nur noch einen unfreundlich schlotternden Lappen, der rasch kälter wurde. Der Klavierhocker saugte sich voll.
Sie sah nicht nach unten. Sie spielte weiter, zwang sich, weiter zu spielen. Hörte, wie es durch den Stuhl auf den Boden zu tropfen begann. Das hohle gleichförmige Pochen eines undichten Wasserhahns. Sie sah nicht nach unten, schon lange nicht mehr. Und mit aller Kraft setzte sie den anderen Rhythmus dagegen. Spielte weiter, spielte und brachte die Sonate zu Ende. Nahm die Hände von den Tasten, spürte nur noch feuchte Kälte.

Die kurze Stille zerbarst in Applaus, Händeklatschen prasselte wie Hagelschlag, kurze Rufe dazwischen, abgerissene Silben. Sie mußte jetzt aufstehen.
Während sie sich dem Publikum zuneigte, blieb der Sitz verborgen. „Ho! Ho!“ klang es von unten. Mehr drang nicht herauf von den Bravos der jungen Männer. Jetzt mußte sie abgehen, mußte sich umdrehen, mußte ihren Rock mit dem großen dunklen Fleck der Menge zeigen. Ein schwärzlicher Fleck mit scharfen Rändern, mitten im roten Samt.
Langsam wandte sie sich um, wollte weg laufen, verließ das Podium ohne Hast. „Ho! Ho!“ klang es von unten herauf. Der Applaus verstummte nicht.
Sie blieb im Gang stehen, der zu den Garderoben führte. Nur wenige Schritte, und dann eine Tür öffnen, hinein gehen, zumachen. Abschließen. Die nassen Sachen herunter reißen. Niemanden hereinlassen. Nie wieder jemanden sehen.
Sie wandte sich um, ging rasch wieder auf die Tür zum Podium zu. „Ho! Ho!“ schrie das  Publikum. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick in den hohen Spiegel am Auftritt. Sie trug einen langen Rock aus Seidenmousseline. Er war dunkelblau. Und er hatte keine Flecken.

Der Applaus schwoll immer noch an. Neben dem Flügel stand ein dickes Mädchen mit einem Blumenstrauß. Zu früh gekommen, das arme Kind. Sie ging rasch hin, nahm ihr den Strauß ab, lächelte, gab ihr die Hand. Sie stand direkt neben dem Klavierhocker. Er war trocken. Kein Fleckchen, keine dunkle Stelle. Keine Pfütze auf dem Boden.
Wieder war die Erleichterung wie ein Schwächeanfall, drückte sie auf den Klavierhocker zurück, viel zu früh für eine Zugabe. Sie saß, blickte zum Publikum, das erwartungsvoll verstummte, und sah in der ersten Reihe den hoch erhobenen Kopf  mit dem Heiligenschein drahtiger weißer Locken. Der fest geschlossene Mund hatte sich mit einem Strahlenkranz haarfeiner Falten umgeben. Aber die hellen Augen starrten so zwingend wie immer. Madame Happe, ihre Klavierlehrerin.
Und in diesem Augenblick wußte sie, daß es sein mußte. Auf dem abendlichen Weg von ihrem geliebten Bechstein zum Schreibtisch, wo die Lampe brannte, würde Madame Happe stolpern und fallen. Eine einzige Stufe lag auf diesem Weg. Doch der Sturz würde tödlich sein.

Von den Blumen hob sich ein süßer, muffiger Duft. Sie legte den Strauß vorsichtig zur Erde, richtete sich wieder auf, sagte leise: „Alexander Gretchaninow.“ In der sechsten Reihe beugten sich die Kritiker gespannt vor. Die Zugaben der jungen Rosencrantz galten als ausgefallen, man durfte den Titel nicht verpassen.
„Steckenpferdchen hopp-hopp-hopp,“ sagte die junge Rosencrantz und beobachtete, wie sich auf der Stirn von Madame Happe eine zornige Falte bildete. „Hopp, hopp, hopp, Dada,“ fügte sie nach kurzer Pause hinzu – „Riding the Hobby Horse! Aus dem Kinderbuch, opus 98.“ Die Ansage war fast so lang wie das Stück. Kaum eine Minute, aber das war genug. Viel länger hatte es auch damals nicht gedauert. Lange genug. Und sie wußte, während dieser Zugabe dachte Madame Happe genau dasselbe wie sie auch.

Dachte an den Vorspielabend vor zwanzig Jahren, als die kleine Rosencrantz – Jüngste im Saal – das Reiterstückchen spielen sollte, im roten Samtkleidchen, mit langen blonden Locken. Dachte an die gespannten Mienen der fremden Mütter, an die abschätzig vergleichenden Blicke, an Verbissenheit und Ehrgeiz. Dachte an die undurchdringlichen Gesichter der anderen Musiklehrer. An die Angst des kleinen Mädchens, das immer wieder gebettelt hatte, der junge Kemmerling möchte ihr Stück mit übernehmen. Kemmerling, sechs Jahre älter, trug zwei Liedchen aus demselben Album vor. Kemmerling hatte das Kind auf Geheiß von Madame Happe aufs Podium gestoßen. Doch sie selbst, Madame Happe, hatte in der ersten Reihe gesessen, schon damals unter dem Heiligenschein ihres weißen Drahthaars. Die hellen Augen hatten die kleine Rosencrantz zum Flügel dirigiert, und der junge Kemmerling hatte den Klavierstuhl ganz hoch gedreht. Hatte sie hinauf gehoben. Und dann war es passiert.

Madame Happe war unbeweglich sitzen geblieben. Hatte ein größeres Mädchen mit der Hand auf dem Platz neben sich fest gehalten, als es aufspringen und zu der kleinen Rosencrantz hinauflaufen wollte, vielleicht, um sie in den Arm zu nehmen, wegzuführen. Oder nur abzudecken gegen die Zuschauer, die nur noch aus Augen bestanden. Kein Räuspern mehr, kein Husten, kein Flüstern. Kein Atmen. Doch dann hatte sich ganz leise ein Geräusch geregt, das hohle, gleichförmige Pochen eines fallenden Tropfens, gellend in der vollkommenen Stille. Und dann hatten Madame Happes helle Augen die kleine Rosencrantz gezwungen, mit ihrem Stückchen zu beginnen. Das Steckenpferd war über die Tasten geklappert, und „Zu weit geritten…“ hatte die kleine Rosencrantz geflüstert, genau an der richtigen Stelle, mit kaum hörbarer Stimme.

„Trotzdem glücklich wiedergekommen,“ sagte die junge Rosencrantz leise, aber deutlich während der Schlußtakte. Das Publikum lachte, applaudierte wie rasend. Sie nahm die Blumen, stand auf, verbeugte sich wieder und wieder. Hinter der Szene blickte sie nicht mehr in den Spiegel, ehe sie nach draußen zurück kehrte. Ihr Rock war blau und leicht. Roten Samt hatte sie seit damals nie mehr getragen.
Und doch war das pompöse Kinderkleidchen mit ihr gewachsen. Und immer wieder hatte sie den nassen Purpurrock am Körper gespürt, ganz plötzlich, wenn sie allein auf dem Podium am Flügel saß. Jedes Mal hatte sie dann weiter gespielt, wie damals, als wenn nichts wäre. Denn mit der Berührung von kaltem Samt spürte sie zugleich den Zwang der hellen Augen wieder.

Madame Happe war damals stolz gewesen, weil das Kind unter ihrem Blick sein Reiterstückchen doch noch vorgeführt hatte, trotz Angst und Scham. „Du hättest sonst nie mehr im Leben ein Konzertpodium betreten,“ hatte sie gesagt, als sie dem kleinen Mädchen nach dem Vorspielabend mit unerwartetem Lob entgegengetreten war. Und die kleine Rosencrantz war ihre beste Schülerin geblieben. Irgendwann hatten die Kritiker sie mit selten schwärmerischem Unterton „die junge Rosencrantz“ zu nennen begonnen; heute, kaum Mitte Zwanzig, hatte sie die Schwelle zur Weltkarriere längst überschritten. Doch die Soloabende dieser Karriere absolvierte sie mit wachsender Angst. Musizierte sie mit anderen zusammen, war sie glücklich; aber immer, wenn sie ganz allein auf dem Podium saß, konnte es geschehen, daß sie mit einem Schlag wieder die kleine Rosencrantz war, im nassen Purpurkleid unter dem Blick von Madame Happe. Es geschah nicht oft. Aber mit jedem Mal wurde die Scham größer: als sei es ihr, der Erwachsenen, jedes Mal wirklich passiert. Und darum mußte Madame Happe in dieser Nacht stolpern und fallen. Stolpern, fallen und sterben.

Das Publikum applaudierte jetzt im Stehen. Die aufwärts gewandten Gesichter waren wie leergefegt. An den rhythmisch bewegten emporgereckten Händen vorbei drängte sich ein lautloser Zug von Zuschauern, die unaufhaltsam wie Grundwasser auf Garderobe und Parkhaus zu quollen. „Die Wut über den verlorenen Groschen!“ schmetterte die junge Rosencrantz in den riesigen Saal. Nur aus den Augenwinkeln sah sie, wie Madame Happes Nasenflügel verächtlich wurden. Was sie deutlich sah, war Kemmerlings betroffenes Gesicht. Kemmerling, der auf dem Platz neben Madame Happe saß, Kemmerling, der inzwischen selbst Klavierunterricht gab und mit Dreißig noch immer von einer Solistenkarriere träumte, Kemmerling, der Madame Happe getreulich begleitete, wann immer sie das Haus verließ. Der sie täglich besuchte, Noten, Zeitungen, Bücher für sie herbeischaffte und nach vielen Jahren treuer Dienste mit einem Schlüssel zu ihrer Wohnung belohnt worden war. Kemmerling, der die kleine Rosencrantz aufs Podium gestoßen hatte und heute Madame Happe die Verhandlungen mit Haushälterinnen und Putzfrauen abnehmen durfte. Madame Happe liebte diese Dinge nicht; sie hatte es immer verstanden, die Erledigung solcher Nichtigkeiten einem ihrer Treuesten als eine Gunst zu verleihen. Sie liebte auch musikalische Nichtigkeiten nicht. Verlorene Groschen, noch so virtuos, waren in ihren Augen keinen Cent wert.

Die junge Rosencrantz lächelte. Madame Happe würde noch heute Abend mit ihr über diese Zugabe sprechen wollen, und sie würde zu ihr gehen. Ein Glas Wein  mit dem Veranstalter, dann würde sie sich entschuldigen, meine alte Klavierlehrerin, das werden Sie verstehen… sie besaß schon lange einen Schlüssel zu Madame Happes Wohnung. Jahrelang hatte sie spät nachts noch für sie gespielt, wenn die alte Frau wieder nicht schlafen konnte. Heute würde sie noch einmal zu ihr gehen, würde nur ein Möbelstück, eine Vase verrücken… und endlich wäre es vorbei mit der Herrschaft der hellen Augen.

Erst nach dem Tod von Madame Happe würde die junge Rosencrantz aufhören, ihre Schülerin zu sein. Madame Happe las alle Kritiken, hörte alle Aufnahmen, kommentierte jedes Konzertprogramm. Brieflich, telefonisch, immer präzise und knapp. In den entferntesten Konzertsälen der Welt schien sie in der ersten Reihe zu sitzen. Und obwohl sie nur selten ausging und kaum noch reiste, war sie ständig anwesend. Unter ihren Blicken konnte die junge Rosencrantz nicht das eine tun, das, was sie sich jedes Mal heftiger wünschte: aufhören zu spielen, wenn das pompöse Kinderkleidchen sie wieder einholte. Abbrechen und sehen, daß nichts passiert war. Aufstehen und das überraschte Publikum anlachen. Solange Madame Happe lebte, mußte sie den Alptraum jedes Mal bis zum Ende durchexerzieren. Zu weit geritten; trotzdem wiedergekommen. Aber nicht glücklich. Niemals glücklich.

Und entschlossen wandte die junge Rosencrantz sich der Klaviatur zu, während die Bewegungen im Raum in den magischen Minuten der letzten Zugabe erstarrten. Die Stehenden setzten sich, wo sie standen, die Stimmen hinter den geöffneten Türen schienen plötzlich weit weg. Kemmerlings Mund öffnete sich leicht; Madame Happe starrte mit engen Augen zum Flügel hinauf. Da war etwas Fremdes an ihrer Schülerin. Sie hörte sehr aufmerksam zu, wie die junge Frau wegen eines kleinen Geldstücks die Eruptivkraft eines Vulkans entfesselte. Diese punktgenau gebündelte Kraft in einem Bach-Präludium, und das Mädchen hätte eine Kettenreaktion ausgelöst. Die feige Bande, die da vorzeitig ins Parkhaus schlich, wäre rückwärts die Treppen herunter gefallen, getroffen, geschlagen von der Wucht des musikalischen Gedankens. Aber nein. Verlorene Groschen mußten es sein. Madame Happe atmete konzentriert aus und ein. Der treue Kemmerling nahm ihre Hand, strich tröstend über die mageren Finger. Ärgerlich zog sie den ganzen Arm weg.

Der Schlußbeifall wollte nicht enden. Die Türen füllten sich mit Besuchern in Mänteln, die es so eilig gehabt und nun plötzlich das Gefühl hatten, etwas versäumt zu haben. Hoch oben, dicht bei den Ausgängen, hatte etwas wie Betäubung ganze Trauben von Besuchern noch einmal in die Sitze geschlagen, im Augenblick, als sie den Saal verlassen wollten. Längst hätten sie mit ihrem Wagen auf der Straße sein wollen, vor allen anderen, um der Giftgasstunde in den verstopften unterirdischen Gängen zu entgehen. Es war ihnen mißlungen; sie erwachten voller Überraschung, und es tat ihnen nicht leid. Sie sahen gerade noch einen leichten blauen Rock von der Bühne wehen.

Die junge Rosencrantz zog sich nicht um. Seit damals tat sie das nie mehr. Das Kleid, in dem sie gespielt hatte, trug sie den ganzen Abend, wie lang er auch dauern mochte. Der blaue Rock wehte über das Straßenpflaster, wehte über die Stufen, als sie in das Lokal hinunter stieg. Wieder ein riesiger Saal, getäfelte Wände, marmorierte Säulen. Doch während sie an dem schimmernd weiß gedeckten langen Tisch saß und dem blonden Bart des Veranstalters zulächelte, sah sie nichts vor sich als die Wohnung von Madame Happe. Die Wohnung im ersten Stock mit den Fenstern zum Rhein. Den Erker, wo der Flügel stand. Von da eine Stufe hinab ins Arbeitszimmer mit dem Schreibtisch und der Lampe. Die kleine Tür ins Schlafzimmer. Und draußen vor den Fenstern immer der dunkle Strom mit den Lichtern der fahrenden Schiffe.

Jetzt, während sie unter den schönen Säulen ihren Wein trank, rückte Kemmerling für Madame Happe den Klavierhocker zurecht, füllte frisches Wasser in die Bodenvase mit Chrysanthemen, die in der Rundung des Flügels stand. Verschlug in der winzigen Küche Rotwein mit Ei und stellte der alten Lehrerin das Kännchen ans Bett. Er hatte das seit Jahren getan, er würde es auch heute tun.
Und dann würde er Madame Happe zum Flügel geleiten, würde die Lampe auf dem Schreibtisch anknipsen, zur Tür gehen und alle anderen Lichter löschen. Und dann mußte er gehen. Denn dann begann für Madame Happe der Abend am Flügel, im dunklen Erker, über den Elfenbeintasten, die ganz matt, wie aus sich selbst zu leuchten schienen, während vor den großen Fenstern draußen auf dem schwarzen Strom die Lichter vorbei zogen. Rot, grün und weiß. Kemmerling mußte gehen, wenn der Abend begann. Die junge Rosencrantz war oft dabei gewesen, hatte gesehen, wie die alte Frau danach im Halbdunkel ihren Weg aus dem Erker zum Schreibtisch nahm, ohne Zögern, am Flügel entlang. An diesem Flügel kannte sie nicht nur jede Taste, jede Saite; sie kannte auch jede Rundung, jede Kante, jeden Schritt zu ihm hin und von ihm fort. Sie wußte genau, wo die Stufe hinab ins Arbeitszimmer führte. Sie brauchte kein Licht.

Die junge Rosencrantz lächelte in die zuckenden Kerzenflammen auf dem langen Tisch. Madame Happe war sich ihres abendlichen Weges so sicher. Sie war sich zu sicher. Ein in den Weg gerücktes Möbelstück würde sie nicht sehen. Denn sie rechnete mit keinem Hindernis auf diesem Weg. Das Lächeln der jungen Rosencrantz wurde innig. Sie brauchte nur den kleinen Fußschemel unter dem Flügel vorzuziehen. Den kleinen Schemel, den Madame Happe während der Stunden damals oft benutzt hatte, wenn sie Schmerzen im Knie hatte. Seit sie nicht mehr unterrichtete, war er unter den Flügel geschoben worden. Unbenutzt, aber griffbereit. Und dann wäre, vielleicht, die Bodenvase mit den Chrysanthemen noch ein Stück zu verschieben. Genau so weit zur Stufe hin, daß die fallende alte Dame sie umreißen mußte. Mehrere Liter Wasser, die sich über sie ergossen. Der Sturz allein würde nicht tödlich sein. Auch Knochenbrüche konnte sie überleben. Aber eine Nacht lang mit zerschlagenen Gliedern im Nassen zu liegen, das mußte auch für eine Madame Happe das Ende sein. Lungenentzündung. Keine Operation mehr möglich. Aus.
Die junge Rosencrantz entspannte sich, hob ihr Weinglas, trank einen Schluck. Lächelte. Der blonde Bart des Veranstalters lächelte zurück. Sie verließ die Feier nicht ganz so früh, wie sie geplant hatte.

Kemmerling mußte längst gegangen sein. Das war gut. Aber vielleicht hatte Madame Happe schon aufgehört zu spielen. Wenn sie schon am Schreibtisch saß, schon im Bett lag und dort auf das Gespräch über den verlorenen Groschen wartete, war alles zu spät. Und, wahrscheinlich, nicht nur für heute. Madame Happe hatte immer Mut von ihren Schülern gefordert. Aber nicht den Mut, einen kleinen Hocker zu verschieben.
Der Weg zum Hauseingang war matt beleuchtet. Eine Lampe, erstaunlich kahl, warf Licht und Schatten auf eine Mauer aus Bruchsteinen, auf Flechten und Ranken, kleine Blumenbeete, Steinplatten. Die junge Rosencrantz zog den Schlüssel; sie zog ihn wie eine Waffe. Vertrauen gegen Vertrauen, dachte sie, und lachte. Leise. Und leise stieg sie zum ersten Stock hinauf. Machte Licht im Treppenhaus, aber kein Licht im Flur, als sie die Tür zur Wohnung aufgeschlossen hatte. Es war dunkel, wie sie erwartet hatte. Nur ein Lichtband von der Lampe auf dem Schreibtisch fiel durch die gläserne Tür.

Alles war still. Niemand spielte Klavier. Keine Taste rührte sich. Kein Ton, keine Bach-Invention, keine Mozart-Sonate. Sie war zu spät gekommen. Und dann hörte sie das Stöhnen. Trat ein. Die Lampe auf dem Schreibtisch brannte. Aber das Arbeitszimmer war leer.
Sie sah sich um. Alles stand schweigend da, alles wie immer. Der Schreibtisch, der Sessel davor, der alte Bücherschrank. Der Flügel. Aber neben dem Flügel lag Madame Happe. Genau an der Stufe, wo die junge Rosencrantz ihren Sturz geplant hatte. Ein Bein ganz merkwürdig abgespreizt. Daß sie noch so gelenkig ist, dachte die junge Rosencrantz. Auch der Fußschemel war da. Die Bodenvase lag in Scherben, und ihr Wasser hatte sich über Madame Happe ergossen. Sie mußte sie im Fallen umgerissen haben, ein paar dunkle Blüten lagen zerquetscht am Boden, und einen langen Stengel hielt die alte Dame noch mit der Hand umklammert. Die junge Rosencrantz spürte den herbstlichen Geruch der Blumen und dachte an Brennholz.

„Gut, daß du kommst,“ sagte Madame Happe. „Du mußt die Feuerwehr rufen. Ich wußte, daß du kommst. Sag ihnen, ich habe das Bein gebrochen. Oberschenkelhals.“ Sie stöhnte nicht mehr, seit sie sprach. Die junge Rosencrantz starrte sie an.
„Ruf an,“ sagte die Alte. „Ich weiß, was los ist. Ich hab meine Tante so gefunden… mit diesem abgespreizten Bein. Komisch. Und jetzt lieg ich selber so da.“ Die hellen Augen sahen die junge Rosencrantz an, zwingend wie immer. Sie ging zum Schreibtisch, wählte, sagte das Nötige. Hörte die Stimme der Lehrerin vom Boden: „Das war wohl der dumme Kemmerling. Der muß den Schemel in den Weg geschoben haben… was hab ich mit dem für Zeit verloren. Und jetzt auch noch das. Verlorene Zeit, sich überhaupt mit ihm abzugeben. Er ist unbegabt. Ich hab ihm das wieder und wieder erklärt, aber er will es ja nicht einsehen. Völlig unbegabt. Heute Abend hab ich ihm das noch mal gesagt…“
Die junge Rosencrantz legte langsam den Hörer auf. Kemmerling. Der junge Kemmerling, der sie aufs Podium gestoßen hatte. Der treue Kemmerling mit dem Hausschlüssel. Der dumme Kemmerling.

„Steh da nicht so tranig rum,“ hörte sie die unzufriedene Stimme der alten Frau. Sie klang beinah wie immer. „Spiel mir lieber was vor, bis der Krankenwagen kommt. Bist immer meine begabteste Schülerin gewesen. Kann dir genausogut zuhören, während ich hier liege. Aber spiel keinen Quatsch. Du weißt schon.“ Und sie lächelte, mühsam und verzerrt, aber immer noch zwingend.
Die junge Rosencrantz machte sich mechanisch auf den Weg zum Klavierhocker. „Wird schlimm genug werden, was jetzt kommt,“ sagte Madame Happe leise, als ihre Schülerin vorsichtig über sie hinweg stieg. „Wer weiß, ob ich’s überlebe. Und wenn, dann hab ich’s dir zu verdanken. Hätte mir eine Lungenentzündung geholt, wenn ich die ganze Nacht hier in der Nässe gelegen hätte. Der dumme Kemmerling. Auch noch die Blumenvase zu verrücken. Totenblumen, diese Chrysanthemen. Warum hab ich sie eigentlich immer da stehen gehabt? Na spiel schon. Meine begabteste Schülerin. Und jetzt hast du mir auch noch das Leben gerettet.“

Von der Straße tönte ein Martinshorn herauf. Und die junge Rosencrantz spielte. Spielte ein kurzes Stück. Eines, das sie noch beenden konnte, bis die Sanitäter vor der Tür standen. „Zu weit geritten,“ flüsterte sie. „Dennoch glücklich wiedergekommen.“
„Glücklich – na ja,“ sagte Madame Happe ungnädig.

Es klingelte an der Tür.



© Dorothea Renckhoff - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007