Der Spott der kleinen Dinge

Regenwurm

von Lars von der Gönna

© Heiko Sakurai
Regenwurm
 
Neulich lag wieder ein Regenwurm in der Tiefgarage. Weiß der Himmel, wie die Tiere da hinkommen. Niemand geht freiwillig in eine Tiefgarage, außer dem Greis, der acht Mal am Tag nachguckt, ob er seinen Opel abgeschlossen hat. Der Wurm wirkte leblos, aber das ist eine Masche. Ich kenne sie von dem Wurm, den ich vor ihm aus der Tiefgarage geholt habe und von dem davor. Da sind sie alle gleich, das ist die Ruhe vor dem Wurm.
    Ich ging nach oben und dachte: Tiefgaragen sind ein trauriger Ort zum Sterben. Den munter gewordenen Wurm legte ich auf den Balkon unter eine skelettierte Petunie. Das Telefon klingelte, und mir fiel Dagmar Berghoff ein. Dagmar Berghoff hat neulich auf dem Weihnachtsmarkt von einer Wahrsagerin ihren Todestag erfahren. Ich nahm den Hörer ab, wünschte meiner Mutter einen guten Tag und erzählte begeistert von Dagmar Berghoff. Meine Mutter sagte kühl, es wäre für Dagmar Berghoff viel schlimmer gewesen, wenn die Wahrsagerin ihr Geburtsdatum verraten hätte.
    Ratlos ging ich zu Heidi Klum über. Meine Mutter hustete verächtlich, ich referierte über Gefahren multikultureller Paarbildung im schnelllebigen Showbiz. Meine Mutter warf mir mein zu langes Studium vor, zündete sich eine Gitanes an und konterte mit einem Witz, den sie beim Augenarzt gehört hatte. In dem Witz treffen sich Seal, Flavio Briatore und Bettina Wulff im Tattoo-Studio. Der Witz muss ein Knaller sein, meine Mutter konnte vor Lachen nicht weitererzählen. Noch vor der Pointe legte sie auf.
    Dagmar Berghoff kennt ihr Todesdatum, verrät es aber nicht. Es hat ja auch Nachteile, bei neuen Handy-Verträgen etwa. Ich schaute auf den Balkon in der Dämmerung. Ein fetter schwarzer Vogel hüpfte zu den Petunien. Ich kann nicht jeden retten, dachte ich, nicht jeden.
 
 

© Lars von der Gönna - Aus dem Buch „Der Spott der kleinen Dinge“
mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Henselowsky Boschmann und der WAZ.