Nach dem Aufwachen

Ein Lamento

von Horst Wolf Müller

Foto © Frank Becker

Nach dem Aufwachen


Herr Buhl ist in den Achtizigern, er spricht etwas kurzatmig, stoßweise, ächzend.
Am Anfang auch ohne Zähne.
Anna ist eine Kranken- oder Diakonieschwester,
die ihn täglich versorgt.





Anna: Aufstehen, Herr Buhl.
Buhl: Lassen Sie mich. (Stöhnt) Ich bin noch...kein....
Anna: Kommen Sie, kommen Sie! Morgengymnastik!
Buhl: Heute nicht. Dieser Schmerz im Rücken! Ah! (Ächzt)
Anna: Das geht gleich weg, wenn Sie sich etwas bewegen.
Buhl: Bin so zerschlagen. Angeschlagen! Au! Nicht so grob! Ich bin ein alter Mensch! Luft! ich kriege keine Luft!
Anna: Kommen Sie, ziehen Sie dieses Nachthemd aus. Ich reibe Ihnen die Brust mit Franzbranntwein ab.
Buhl: (ächzt) Vorsicht, der Arm. Ah! Uh! Hoi! (seufzt erleichtert) Aber die Knie. Ich kann nicht auf!
Anna: Wo haben Sie die Arthrosesalbe ?
Buhl: Da, im ...Schub.
Anna: Haben Sie sie wieder nicht zugeschraubt... jetzt sind lau­ter kleine Fliegen drin.
Buhl: Aah! Wie das brennt! Wie Feuer! -- Mein Gebiß. Geben Sie mir mein Gebiß, damit ich richtig... lamentieren kann.
Anna: Wo haben Sie das denn wieder ?
Buhl: Wo hab ichs denn... rausgenommen ? Das muß auf dem Ofen liegen.
Anna: Na, da gehört es hin.
Buhl: Nein... In Alkohol hab ichs gelegt.... im Rumtopf liegt' s.
(Anna setzt ihm das Gebiß ein...krack)
Buhl:  Au! Nein. Das hakt am Kiefer. (krack) Jetzt sitzt es. Ah! Wie das jetzt duftet! Nach Brombeerschnaps!
Anna: So, drehen Sie sich jetzt um.
Buhl: Ai ai ai. Das Leben...das liebe Leben. Ein Wrack...ein wandelndes Wrack...
Anna: Stillhalten. (Gibt ihm einen Einlauf)
Buhl: Ah...das tut gut... Diese ewigen Blähungen...jede Nacht... die Krämpfe...
Anna: So, jetzt setzen Sie sich wieder auf.
Buhl: Was kommt nun als nächstes ?
Anna: Aber Herr Buhl. Wissen Sie das nicht mehr ?
Buhl: Habs vergessen.
Anna: Jetzt wasche ich Sie, Herr Buhl.
Buhl: Bravo! Das ist löblich. Ich rieche nämlich nach - weiß gar nicht - nach Speck rieche ich nämlich neuerdings...
(Man hört Waschen)
Anna: Nur abwarten.
Buhl: Heiß! Zu heiß! (er schreit fast) Diese Siedehitze! Haah! Was ist der Mensch. Eine zuckende Masse, hilflose Masse Fleisch. Haach! Kalt!
Anna: So. Kommen Sie heute allein in die Hosen, Herr Buhl ?
Buhl: (versucht es) Ich krieg sie nicht - krieg sie nicht über die Zehen. Geht nicht. Alles steif.
Anna: Kommen Sie her.
Buhl: Es ist ein Elend. Ich bin eine Geisel Gottes. Es ist eine Schande. Ich war einmal Meister am Barren. Ja, am Barren! Grätsche über beide Holme. - Das Hemd schaff ich aber selber (ächzt). Jetzt gehts besser. Oberhose könnte ich vielleicht allein. Im Alleingang sogar.
Anna: Na sehen Sie, Herr Buhl!
Buhl: Haben Sie meine Morgentabletten bereitgelegt ?
Anna: Alles da.
Buhl: (schlurft zum Tisch) 1..2..3...4...5...6. Und wo ist dieses rote Kügelchen für das Herz - für die -
Anna: Das brauchen Sie heute nicht, Herr Buhl.
Buhl: Für das Denken, damit mein Gehirn nicht aus der  - Mode -
Anna: ...aus der Übung kommt.
Buhl: Übung, jawohl. Geben Sie Wasser zum Spülen. Scheußlich, widerlich. Kaffee jetzt.
Anna: Mach ich Ihnen, Herr Buhl.
Buhl: Post. Was ist das für Post ?
Anna: Ein Telegramm, Herr Buhl.
Buhl: Ich will kein Telegramm. Ich will Kassetten, besprochene Kassetten. Das Lesen, das macht mich - regt mich zu sehr -
Anna: (unter Siedegeräuschen) Strengt Sie zu sehr an, das Lesen. Ich lese es Ihnen vor, Herr Buhl.
Buhl: Lesen Sie. Aber langsam, Satz für Satz.
Anna: (reißt das Telegramm auf) Da steht aber nur ein Satz.
Buhl: Na, das ist ja erfreulich. Lesen Sie.
Anna: "Wir beglückwünschen Sie zur Erlangung des diesjährigen Nóbelpreises für Literatur."
Buhl: Nóbel ? - Nobèl! Nobèlpreis heißt das. Und wer hat den bekommen ?
Anna: Sie!
Buhl: Ich ? Du liebe Zeit! Jetzt mit 87. Das ist ja eine -  ist  ja peinlich...Schwester Anna... Vor 30 Jahren hab ich den erwartet - da war ich ein Brausekopf - eine Feuerseele - Ai ai ai. Peinlich. Telegrafieren Sie zu­rück: Ihr seid alle große Nachtwächter. Ja. Ja ja! An die Nobelpreis-Gesellschaft in Kopenhagen...Hagen... Schreiben Sie. Sehr geehrte Herren. Beehre ich mich erst, jetzt, Ihnen - haben Sie keinen Bleistift ? Doch. Was hab ich denn jetzt diktiert ? Bin ich froh, Ihnen sagen  zu können...daß mein letztes Buch vor circa 25 Jahren  erschienen ist - ...schienen ist. Es handelte sich dabei um  eine Abordnung...nein. Abhandlung über die Zu­bereitung von...schwer zugänglichen Salben. Salben. Sollten Sie an den Rechten geraten sein -  Moment mal, Was hab ich denn da...jetzt blicke ich nicht mehr durch. Geben Sie mir erst mal eine Tasse Kaffee...und bitte... das rote Kügelchen für die Gehirndurch...dringung - Blutung. So eine Aufregung am hellerlichten Tage. Tage. Ich muß mich gleich wieder.. (schlurft zum Bett) hinlegen - nur ein Viertelstündchen. So eine verdammte Pleite... Die müssen ja wirklich... weich im Hirn... sein...


© Horst Wolf Müller - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007