Der Wahnsinn kommt langsam auf uns zu

von Hanns Dieter Hüsch

Ich sitz
in einem Stückchen Wald
in der Nähe von St. Moritz
schneid mir meine Fingernägel
feile sie schön rund
vorüber geht ein junges Paar
mit einem Kind
im sogenannten Kinderwagen
Das ist die Situation
mir selbst zu sagen:

Ich bin immer da am liebsten
wo's so schön unsterblich ist
wenn die Seele mir am trübsten
weil der Himmel erblich ist

Das kann mitten im Gebirge sein
unter Christen oder unter Heiden
in der Wüste und im Schnee allein
aber auch beim Fingernägelschneiden

Wo sich das Innere ans Innerste erinnert
und sich Musik als Anfang zu erkennen gibt
wo gleich der erste Augenblick schon ziemlich spinnert
weils vorgeschichtliche Antennen gibt

Am Anfang können wir nichts sehen
am Ende sind wir wieder blind
und wenn wir meinen etwas zu verstehen
weil wir Sklaven der Geschichte sind

so ist's am nächsten Tag schon umgekehrt
am übernächsten Tag schon wieder weg
und alles was man uns so schön gelehrt
hat keinen Sinn gehabt hat keinen Zweck:

Ja der Wahnsinn geht langsam um die Ecke
Ja der Wahnsinn schreitet langsam übers Feld
Ja der Wahnsinn ziehet langsam in die Häuser
Ja der Wahnsinn kommt langsam in die Welt

Tausend Gespräche in einer Sekunde
Thesen und Texte laufen im Kreis
Diskussionen und Tafelrunde
Tausend Behauptungen ohne Beweis

Jetzt basteln sie Neutronenbomben
und bitten uns um einen kühlen Kopf
man baut für uns die schönsten Katakomben
und dann drückt einer auf den roten Knopf

Natürlich war die Sache ein Versehen
Die Schuld allein trägt die Bevölkerungsdichte
man bittet uns das auch noch zu verstehen
das sei nun mal der Lauf der Zeitgeschichte:

Ja der Wahnsinn kriecht langsam durch die Steppe
Ja der Wahnsinn kommt langsam auf uns zu
Ja der Wahnsinn tritt langsam auf die Treppe
Ja der Wahnsinn sagt langsam zu uns Du

Pläne Papiere und Konfessionen
Leistungssport und psychischer Schutt
Trümmer und Träume von Spätreligionen
Romane als Fazit siehe Der Butt

Da mach ich nun in Unterhaltung
und mache euch was vor schön pointiert
Doch längst hat uns die Weltverwaltung
zu Untergangsstatisten degradiert

Da sitze ich und warte auf die Zukunft
auf bessere Zeiten Gott bin ich naiv
Dabei wars schon beschlossene Sache
als ich in meinem Mutterleib noch sorglos schlief:

Ja der Wahnsinn frißt langsam unsre Nerven
Ja der Wahnsinn dringt langsam ins Gehirn
Ja der Wahnsinn hält langsam bei uns Hof
Ja der Wahnsinn küßt uns langsam auf die Stirn

Erziehungsmethoden und Sandkastenspiele
Eherezepte und Kirchentage
Podiumsgäste und geistige Ziele
Folterkeller und Wirtschaftslage

Da tanzen sie auf sogenannten Sommerfesten
Herrn Hitler hört man in den Kinos bellen
Und Helmut Schön muß seine Spieler testen
Dann wieder eine Sondersendung zwischen Tanzkapellen

Es wird entführt ermordet und erpreßt
im Namen irgendeiner Sache
Was sich aus der Geschichte lernen läßt
ist leider immer nur Vergeltungstrieb und Rache

Ja der Wahnsinn hält uns langsam in den Armen
nennt sich Erde Vater Mutter Kind und Welt
Bittet um Verzeihung uns und um Erbarmen
daß er uns in seinen Armen hält

Arbeitsessen und Trimm-Dich-Pfade
Choräle aus zuverlässiger Quelle
Rundfunkprogramme und Fernsehparade
Zwangsgestammel von höchster Stelle

Autorisiertes Radebrechen
Wichtigtuer und Schnellkommentare
Heilloses Durcheinandersprechen
Lässig verkauft als Wirklichkeitsware

Ja der Wahnsinn ist natürlich keine Lösung
Denn ich weiß wir Menschen brauchen stets Erbauung
Von der Zeugung bis zur bläulichen Verwesung
Brot und Spiele und wenn's geht 'ne Weltanschauung

Ja dies Lied bringt mich ins Grab
Darum muß ich stets so tun
als wenn ich's nicht gesungen hab

sitze wieder mal in meinem Stückchen Wald
in der Nähe von St. Moritz vaterlos allein
schneide meine Fingernägel
feile sie schön rund
schau nochmal in einen Kinderwagen
um die Unschuld vor den Augen
mir zu sagen:

Ich bin immer da am liebsten
wo's so schön unsterblich ist
wenn die Seele mir am trübsten
weil der Himmel erblich ist

wo die weißen Flecken unbekanntes Land bedeuten
wo spazieren gehn noch kein Verbrechen ist
wo du träumen kannst von unberührten Zeiten
und für niemanden zu sprechen bist.
 

Hanns Dieter Hüsch
1977
 

© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung