Mein Onkel

von Hanns Dieter Hüsch

© Jürgen Pankarz
Mein Onkel
 
Übrigens
Das war mein Onkel
Der im Sarg verwechselt wurde
Der war Schneidermeister
Aber eigentlich auch nicht so richtig
Sondern vielmehr
Der War Schneider und Lehrer und Musiker
Und mein Onkel
Alles in einer Person

Das war mein Onkel
Der im Sarg verwechselt wurde
Die ganze Kleinstadt hat ihn höchstpersönlich gekannt
Er trug einen großen Hut mit breitem Rand Kalabreser genannt
Hielt Straßenbahnen an
Und rauchte dicke Brasilzigarren
Alles in einer Person

Er War der Älteste von 10 Geschwistern
Und mußte die Schneiderei seines Vaters auf sich nehmen
Wär aber gerne Lehrer geworden
Also damals schon Numerus clausus natürlich von anderer Art
Und hat dann nebenbei dirigiert
4 gemischte 2 Kirchenchöre
Und Männergesangvereine an die 4 oder 5
Und alles mit der Hand

Er ist dann urplötzlich gestorben sozusagen an dicken Bohnen
In zweieinhalb Tagen
Ich saß in Gießen in der Anatomie Prof. Wagenseil
Es hieß es war ne Verschlingung des Darms
Aber in Wirklichkeit war es ein Bruch in fettarmer Zeit
Der im Verbund mit dem Darm dann die
Verschlingung in Gang hielt
Und so zu einem billigen Ende führte

Franz Schubert schwamm durch sein Handwerk
Immer leicht unrasiert im Hemd ohne Kragen
Saß er im Schneidersitz tief gebeugt auf dem langen Tisch
Die kalte Zigarre zwischen den schlechten Zähnen
Und stach die Nadel ins linksseitig aufgerauhte Baumwollgewebe: Barchent
Steifleinen lag überall in der Werkstatt herum
Gleichzeitig mich beobachtend
Der ich selbstvergessen und sorgenfrei
Auf dem Boden mit leeren Garnröllkes spielte

Gleichzeitig ihn beobachtend
Wie er über die Brille hinweg
Durchs Fenster auf den langsam faulenden Birnbaum sah
Die Ehe war kinderlos
Alles in einer Person

Oft ging er mit mir ins Kino
In Western und Lustspiele
»Der Rächer« mit Akim Tamiroff
Und »13 Stühle« mit Rühmanns Heinz
Höchst berauscht schlichen wir dann nach Hause zurück
Er lahmte aus der Hüfte heraus
Ich hinkte und zwar nicht schlecht
Jedenfalls besser als der berühmte Vergleich
Lachen und lahmen
Hinken und hicheln
Alles in einer Person

Einmal und immer wieder erzählte er
Wie er in freier Natur spazierend an eine Art Schloß geraten
Dort habe ihn eine Art Baronin am Gartentor schon erwartet
Ihn eingeladen doch einzutreten
Ihm das vornehme Haus von oben bis unten gezeigt
Und ihn dann Wieder auf den Weg geschickt
Zu seinen Nähmaschinen und riesigen Bügeleisen
Die man damals noch voll und ganz in den glühenden Ofen steckte

Mein Onkel war ja auch Philosoph
Und Pflanzenbeschreiber und Fachmann
Für feinste englische Stoffe
Las Krimis und Abenteuerromane Wallace und Löhndorff
An Himmelfahrt machten wir eine Fahrradtour
Und träumten höchst polyphon
Von Hirnbeersaft Löwenzahn Kartoffelsalat
Matthias Claudius
Ave Maria .
Shakespeare aus Thermosflaschen und Henkelmann
Über giftgrüne Wiesen immer einem unsichtbaren Gesang auf der Spur
Endlose Trauermärsche in Dur

Mitten im Krieg
An einem Samstag begraben
Die Behörden hatten ausnahmsweise erlaubt
Daß der Zug mit Pferd Wagen und Sarg
Durch die Stadt ziehen durfte
Mit Reden Musik und Gesang am Grab
Für einen der nichts erreicht hatte
Nicht mal sich selbst

Sonntags jedoch ging es schon rund
Ihr Onkel liegt leider noch in der Kapelle
Wir haben gestern den Falschen begraben
Morgens in aller Herrgottsfrüh ausgetauscht
Und umgebettet
Ich war nicht dabei

Und manchmal mein ich
Er liegt gar nicht da
Sondern fährt über Land
Singend und voller Schadenfreude
Bringt vielleicht der Baronin ein Ständchen von Schubert
Und beobachtet mich
Wie ich mein Leben vergeude
 

Hanns Dieter Hüsch
 

© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Das schwarze Schaf vom Niederrhein" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Die Zeichnungen stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.