Litauen und der Schlern

von Konrad Beikircher

Foto © uwe vahle / pixelio

Litauen und der Schlern

 
Unser erstes Au-Pair-Mädchen war eine Lietuvaite, eine Abiturientin aus Kaunas in Litauen. Sie hieß Ingrida, nannte sich Inga, war wunderbar und alle vermissen wir sie heute noch. Ihre hellen Augen strahlten 24 Stunden lang am Tag, sie verzauberte mit ihrer Heiterkeit die ganze Bonner Südstadt und ihr Lachen war entwaffnend. Sie hatte in Kaunas Abi gemacht und hatte eine 1 in Deutsch. So wurde sie uns empfohlen. Die 1 in Deutsch entpuppte sich schon noch ein paar Stunden als reine Chimäre, die Hürde mit den Artikeln hatte sie nie genommen. Das merkte sie natürlich auch und wurde immer gedrückter. Am dritten oder vierten Tag ging sie weinend in ihr Zimmer, alle Versuche, sie zu trösten, scheiterten. Dann, am fünften Tag kam sie morgens strahlend aus ihrem Zimmer in die Küche, goß sich eine Schale Kaffee ein und sagte: „Ich habe beschlossen, einfach zu machen. Kein Mensch braucht Artikel so viele. Ich nehme ab jetzt nur ein Artikel: „der“ - sprachs und strahlte mich an „Der ist sehr gut, der Frühstück!“ und genoß, daß ich sie verstand. Dabei blieb es, ein ganzes Jahr lang. „Der ist sehr schön“, „Der ist nicht erlaubt“, „Der darfst du nicht“ waren Farben, die plötzlich in unser häusliches Leben kamen und das alles nur, weil sie statt dreier nur einen Artikel verwendete. Die Kinder lachten sich scheckig, entdeckten darüber völlig neue Sprachspiele, kurz: wir verstanden uns prima. Dann kam Urlaub. Im Winter wollten wir eine Woche nach Südtirol fahren, Seis am Schlern war angesagt. Wohin mit Inga? Ach was, komm doch einfach mit. Sie war begeistert, weil sie noch nie Berge gesehen hatte und nun sehr neugierig auf die Alpen war. Wir fuhren los, kamen so um 17, 18 Uhr in München an, es wurde dunkel, Berge sehen war also nichts. Wir kamen so gegen Mitternacht in Seis, genauer: in St. Konstantin an und kamen in eine kleine Ferienwohnung mit Balkon. Blick direkt auf den Schlern! Nein, nicht nur ein Blick, das war ein ganz gewaltiges Panorama, das sich da vor einem auftat – wenn es hell ist und man was sehen kann! Ich tröstete Inga mit dem Hinweis, daß sie morgen früh alles sehen könne, ich würde sie wecken. 7 Uhr, die Kinder werden wach, gehen auf den Balkon und kommen nur mit einem „Boah!“ nach dem anderen wieder rein, Zeit, Inga zu wecken. Sie soll sich die Augen zu halten, sage ich ihr, dann führe ich sie auf den Balkon vor den Schlern, der sich da gigantisch vor unserer Wohnung auftürmte. „Jetzt darfst Du gucken“, rufe ich und Inga reagiert erwartungsgemäß. Mit offenem Mund staunt sie, was das Zeug hält, dann holt sie Luft und sagt: „So viel Berg! Daß der Boden das aushält!“. Irgendwie überzeugend, oder?!
 
Ihr
Konrad Beikircher


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Redaktion: Frank Becker