Rhein und wahr

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Allerlei Seufzer

24. Juni: Fahrradschloß - Er hatte sein Fahrrad durch zwei Giftschlangen
gesichert.
 
25. Juni: Trost - Im Grunde weiß ich gar nicht, wer sie ist. Wir grüßen uns seit 100 Jahren und es ist mir völlig schleierhaft, woher ich sie kenne. Auch heute nickte sie mir zu und weil ich von der Sonne geblendet war, drehte ich mich zu ihr um, und erkannte erst jetzt, wen ich vor mir hatte. Wir sprachen ein wenig über die Sonne, bis sie plötzlich die Stimme senkte und sagte: „Sie müsse gleich zur.......“ Ich schwöre, daß ich nichts verstanden habe. Ich wußte nicht wohin sie mußte, nur, weil sie das Wort flüsterte, ahnte ich irgendwie, daß es was Schwerwiegendes war. „Oh“, sagte ich, um Mitgefühl zu zeigen. Sie sagte: „Sie haben bei mir …..“ Den Rest verstand ich wieder nicht. Es könnte sein, daß sie von einer bösen Krankheit sprach, möglich war aber auch, daß ein Führerscheinentzug zu beklagen war. Ich versuchte so zu schauen, als wollte ich sie umarmen. „Den Kopf in den Sand zu stecken, nützt sowieso nichts“, sagte sie noch. Ich seufzte ein wenig herum. Meine Anteilnahme sollte sie auf jeden Fall erreichen. Im Grunde ist es doch egal, ob man einen Führerscheinentzug beklagen muß, oder eine Krankheit einen beutelt. Das Leben nimmt keine Rücksicht auf die Würde des Menschen. Wir müssen selbst dafür sorgen, daß wir uns trösten, selbst wenn man nicht immer genau weiß, warum der andere leidet.
 
26. Juni: Der Rasierschaum - (Er drückt eine Rasierschaumdose. Macht den Klang der Rasierschaumentweichung nach.) Kennen Sie das? Dieses Geräusch, wenn der letzte Rest des Rasierschaums nicht kommen will? (Macht das Geräusch nach) Da gibt sich wer Mühe, da reißt sich wer zusammen, um dann doch nur ganz sparsam aus der Öffnung zu sabbern? Da ist kein Druck mehr. Propan, Butan, Dimethylether, Ade. „Du schaffst das. Gib nicht auf. Es sind nur kleine Schritte bis zum Ziel.“ Der letzte Rest vom Schützenfest. Ein Geräusch wie das Röcheln des Opas, bevor er selbst zerstäubt wird, aufgeht als Sprühstrahl im Universum. Das Rasierschaum-Vorwärtspreschen verabschiedet sich mit einem Grunzen, als hätten Geräuschdesigner an seinem Abgang getüftelt. Schaum vorm Mund muß kein Krankheitsbild sein. „Komm Schaum, zeig mir, daß Du mich liebst“. (Eine letzte Rasierschaumkugel bildet sich nach langem Drücken des Spenders.) Oh Rasierschaum. Du fehlst mir so. Du warst oft der erste, der mir einen guten Morgen wünschte. Du verwandeltes mich in einen Weihnachtsmann. So was vergißt man nicht. Was sagen sie? Das ist unwichtig? Welch verschenkte Emotionen. Aber warum? Da macht einer einen guten Job und mir soll das egal sein? (Er drückt nochmal, da hängt sich noch ne Kugel dran.) Mich rührt das. Dieses selbstlose Schlürfen und Saugen. „Laß mich hier liegen. Geh zur Arbeit. Meine Zeit ist vorbei.“ Ich bin kein Schaumschläger, aber da ging es mit mir durch. „Halt durch. Du schaffst das. Schlaf jetzt nicht ein.“ Ich schüttelte die Dose. Ich drückte und drückte auf den Spender, aber es war zu spät. Er war verstummt. Da bildete sich noch eine Blase, ein letztes Lebewohl, wie ein Traum, der zerplatzt. Ich bin dann unrasiert zur Arbeit gegangen. Mein Dreitagebart als Trauerflor. Ein Zeichen. Ein Arbeitskollege blickte mich an. Ich nickte. Er bildete mit seinen Fingern ein Herz. Er hatte verstanden.
 


© 2014 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker