Eine Reise in spät-kommunistische Zeiten

Jaroslav Rudiš bei der Wuppertaler Literatur Biennale

von Jürgen Kasten

Eine Reise in spät-kommunistische Zeiten
 
Wuppertaler Literatur Biennale 2014
Unterwegs nach Europa
 
Literatur in der Viertelbar, konzipiert vom Katholischen Bildungswerk, für Menschen des (Luisen-) Viertels, gibt es seit Jahren. Am 27. Mai wurde die Lesung in die Literatur Biennale eingebunden. Zu Gast war Jaroslav Rudiš, tschechischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker (und Musiker). Der Journalist Ulrich Hufen moderierte und stellte gleich zu Beginn seine brennendste Frage: „Spielt der Roman „Vom Ende des Punks in Helsinki“ nun in Berlin oder nicht?“ Jedenfalls nicht in Helsinki, lachte Rudiš, obwohl womöglich die Finnen der Ansicht waren und deshalb das Buch auch in Finnland herausbrachten.
Die Handlung spielt in einer nicht genannten Stadt, zum Großteil in einer Bar namens „Helsinki“. Sie gibt es, heißt aber anders und da Rudiš sich viel in Leipzig aufhält, wird sie wohl dort sein. Der Autor wohnt unweit Prag („eine teure, langweilige Touristenstadt mit doofen Pragern, sagen die übrigen Tschechen“, schmunzelte Rudiš) im Grenzgebiet zur ehemaligen DDR, ist dort auch aufgewachsen und pendelt unablässig hin und her. „Man kann daher auch sagen, ich wohne im Zug zwischen Prag und Berlin, eine wunderschöne Bahnstrecke.“ Rudiš ist ein unprätentiöser, sympathisch lustiger Erzähler.
Noch zu DDR-Zeiten sagte sein Opa immer, ein überzeugter Kommunist: „Die in der DDR, das sind die Guten.“ Aber es gab auch damals schon Punks in Tschechien und der DDR. Sie wollten sich durch ihr Aussehen und Verhalten von den Systemen abgrenzen. Und beide, die DDR- und tschechischen Punks, trafen 1987 bei einem Konzert der „Toten Hosen“ in Pilsen aufeinander und verbrüderten sich. Rudiš war damals fünfzehn und nicht dabei; aber ein Freund, und der erzählte von den Geschehnissen während und nach dem Konzert. Dieses Ereignis (dazu Filme auf You-Tube) ergab die Grundidee zu dem Roman. Es gilt als sein bisher bestes Buch.


v.l.: Jaroslav Rudis, Ulrich Hufen - Foto © Jürgen Kasten
 
Ole, 40 Jahre alt, Betreiber des „Helsinki“ und sein Freund Frank, früher Ostdeutsche, jetzt Gesamtdeutsche, dümpeln durch ihr Leben, das aus Musik und Bars besteht – romantische Loser, so bezeichnete Rudiš sie. Als 16/17jährige waren sie Punks. Beim Konzert in Pilsen treffen sie auf die Punkerin Nancy. Vorher im Buch erleben wir sie beim Philosophieren mit herrlichen Dialogen in der Bar „Helsinki“ und zum Schluß, 25 Jahre später, auf einer Reise in ihre Punkervergangenheit nach Tschechien.
Jaroslav Rudiš las aus der deutschen Fassung, die seltsamerweise viel dicker ist, als die tschechische. „Die Übersetzung ist gut, war aber schwierig“, meinte er, Eva Profousová mußte sich der Hilfe einer echten Punkerin bedienen, um die Szenesprache richtig rüber zu bringen.
In der Mitte des Buches befinden sich einige schwarze Seiten, eine eingeschobene Geschichte, geschrieben von einer heute 17jährigen Punkerin.
Das Publikum im schummerigen Lesekeller der Viertelbar war altersmäßig gemischt; aber gleichermaßen begeistert. Die zum Verkauf angebotenen Bücher waren schnell vergriffen.

„Vom Ende des Punks in Helsinki“ ist 2014 bei Luchterhand erschienen, Klappenbroschur, 325 Seiten, ISBN: 978-3-630-87431-9, € 14,99, € 15,50 (A), sFr. 21,90.
 


v.l.: Dirk Domin, Jaroslav Rudis - Foto © Jürgen Kasten

Jaroslav Rudiš ruhte sich einen Tag aus, fuhr zwei Runden mit der Schwebebahn und stand am Abend des 28. Mai dann neben Moderator Dirk Domin wieder auf der Bühne. Diesmal im „Bürgerbahnhof Vohwinkel“, wo der Film „Alois Nebel“ aufgeführt wurde und er über ihn mit dem Publikum plauderte.
Rudiš Großvater Alois war in Tschechien Eisenbahner im Grenzgebiet zu Polen. Dort befindet sich auch das Altvatergebirge, durch das sich nach wie vor die Eisenbahnlinie Nr. 292 schlängelt. Irgendwann im Jahre 2002 saß Rudiš mit seinem Freund Jaromir 99 in Prag in der Bar „Zum ausgeschossenen Auge“ (sein Faible für ausgefallene Kneipen ist legendär) und beide sprachen über das Eisenbahnerleben und die alten Zeiten, über die bisher niemand zu sprechen wagte, nämlich die Vertreibung der Deutschen aus Böhmen und Mähren nach dem 2. Weltkrieg. Nach der Wende war das plötzlich ein Thema. Die Freunde beschlossen, darüber eine Graphic Novel zu machen. Es entstand der dreiteilige Roman „Alois Nebel“, Text von Jaroslav Rudiš und Zeichnungen von Jaromir 99, einem Universalgenie, dem nur 1 Prozent zum absoluten Perfektionisten fehlen, so Rudiš.
Das Buch wurde ein durchschlagender Erfolg. Es wurde von Tomáš Luňák mit Schauspielern verfilmt und anschließend von Zeichnern im Rotoskopie-Verfahren realisiert. Das dauerte über zwei Jahre. Entstanden ist ein toll animierter schwarzweiß Film mit fantastischen

„Alois Nebel“ - Foto © Jürgen Kasten
Landschaftsbildern.
Die Geschichte des Films behandelt nur einen Abschnitt des Buches. Herbst 1989: Fahrdienstleiter Alois Nebel hockt auf einem kleinen Bahnhof namens Bilŷ Potok. Zur Entspannung liest er alte Fahrpläne. Ansonsten fertigt er die durchfahrenden Züge ab. Dabei plagen ihn Visionen aus Nachkriegstagen: Vollgepferchte Waggons mit Vertriebenen, ein Mord, er selbst als Kind dazwischen. Nebel verkraftet das nicht, landet in der Psychiatrie, lernt dort den „Stummen“ kennen. Auch der war damals dabei. Jetzt ist er zurückgekehrt, will Rache nehmen...
 
Als der Film 2011 hochgelobt in Venedig seine Premiere feierte, und später auf anderen Festivals weltweit, glaubten die Filmexperten nicht, daß dieser so perfekt realisierte Film „nur“ 3 Millionen Euro gekostet hatte. Rudiš ist stolz auf dieses Projekt und darin konnten ihn alle Zuschauer im ausverkauften Haus beipflichten.
Die Graphic Novel „Alois Nebel“ ist bei Voland & Quist erschienen, Broschur, 360 Seiten, ISBN: 978-3-86391-012-9, € 24,90. Eine DVD zum Film gibt es auch. Allerdings ist zur Zeit die deutsche Fassung nicht erhältlich.
 
Alles rund zum Festival unter www.wuppertaler-literatur-biennale.de
 
Redaktion: Frank Becker