Mein eischt Ziggar

Eine moselfränkische Erinnerung

von Theo Seiwert

 

         

 

 

Mein eischt Ziggar

Eine moselfränkische Erinnerung
von Theo Seiwert
Mein eischt Ziggar   
 
Meatten ean Merchingen, op dem Blatz, wu hout dat nou Caritashous stäät, hott freier Brääz hier Wertschaft gestann. On wisawi vun de Wertschaft, op der annerer Stroaßenseit woar zu meiner Keannerzeit e steilen Hangk meat e poar Agazienbäämen. Daat woar „dn Hiwwel“, on ent däm Hiwwel eas de Baach gelaaf. Wei eas de Baach nemme ze sejhn. Se lääft nämlich ewei deif ennerm Böddem dörch gruuß Rohrer.
 
Den Hiwwel woa oasen leifschden Spillblatz. Dö konnten mier un dennen alten Agazienstronken remm grawweln, op der Box den Hiwwel roop retschen, on mä konnten sugoar noch eppes feannen. Brääz hier Deinschtmäderscher hotten nämlich de Kierdreck on anner Oopfäll aus dä Wertschaft änfach dn Hiwwel roopgeschmeass. Ab on zou woar dann ean dem Kierdreck och emoal e Geldsteck oader soss eppes, watt Jongen kennen gebrouchen.

Eïch glaaf, et woar eam Summer 1941 gewierscht. Eïch woar stecker 10 Joahr alt, du woar ich richtiwwer bei oasem Noober Norbert fier ze spillen. Dö gäht den meat mer heanner hier Hous, wu sei Mamm oas net me geseijhn hott, on peschbert mer eant Uher: „Gumoa lei, watt eich geschder um Hiwwel fonn hun“, on héllt aus seim Boxesack en half Ziggar. Et woar en goat deck Ziggar, noch net emoal halwer geraacht. „Die löö raachen mier zweijn muer dn Nöömettich“, soat en. „Au, dö maan eich meat“, soat ich, „eich sea joo sou geschpannt, wei dei schmackt.“

Denn annern Daach! Eich konnt net sier genoch meat meine Schoulofgaben fiertig gean. Eich hunn se sier dehigestruddelt. Eich hott se grööt fiertich, du reijft och schon den Norbert un oaser Housdier. Sier de Schoulsaachen ean de Ranzenh on raus bei en!
 
Mir zwéin sean heanner em Norbert hirem Hous iwwer de Kerichebaach ean Necklesen hier Baamsteck on hunn oas dö ean e Weidenbusch gehuckt. Dn Norbert hellt de Ziggar on et Streichholz ous em Boxesack on fenkt dat Dengen un. Hän zéiht kräfdich on bließt dn Damp ean de Loft wie en Alten. Dou gefft en mier de Ziggar. Eïch maant et gröd esou. Dou woar henn nommo un der Reih. Sou hu mier oobweßelnt gezuh on hotten oas Fräät. Iwwer oas eas en richtich Wolik heijch gang. Geschmackt hot den Damp oas jo net, awer mir hotten oas richtich gruuß gefeijlt, weil mer eppes konnten wie oas Pappen...

Mier woaren sou scheijn um Dämpen, döö seijhn ich op ämoal iwwer oas et Dibossen Liss ean seim Goaden. Daat stäät um Zoun on guckt ean oase Weidebusch, wat elö soll brennen. Eam selwischten Moment dreht et sich och schon eremm on verschwinnt.
 
O Jesses, eweil sean mier zweijn drunn! Mier woaren secher, datt et Liss oas  bei oasen Pappen verroaden gääht on dann gefft et vunn der langer Höwer.

Meat ääm Schlach woar oas de Loscht um Raachen vergang. Dn Norbert schmeißt de Ziggar ean de Baach. Mier gucken oas unn: „ Watt eweilen maachen? Mier mossen den Tubacksgeschmack ous em Maul gréijn, datt oas Pappen neischt réijchen.“ Mier grawweln op den negschden Ramburbaam, blecken vunn dennen gréijnen Äppeln on beißen gräftig drean. Mier gnaan lang on schlecken awer nur de Saft eroop. Datt annert spouzen mier raus. Sou hu mä en Zeitlank lö uewen geseas, bes mer gemäänt hun, mä geeng neischt me vum Rachen réijchen. Dou sean mer roop vum Baam on haamgeschlech, voller Angscht, wat ewei soll kommen.
Dn Norbert eas iwwer hieren Stee ean hieren Goarten on ean et Hous gang. Weij et em dö gang eas, konnt e mier reijcht denn anneren Dach verzellen. Eich moscht noch iwwer de Baach sprengen, emm Dibossenhous eremm on iwwer de Stroaß bes ich dähaam woar.
 
Oas Housdier stäät op, wie emmer. Eich well dörich dn Housgangk ean de hennerscht Kechen schleichen bei de Mamm. Awer de Dier vun der vieschder Stuff stäht opp. Mei Papp stäht ean der Stuff vierem Spiggel, et half Gesicht voll Schaum, die anner Hälft scho rasiert, ean der reezer Hand et Rasiermeasser. Wie eich ängschtlich nö him schilixen, seit e mich eam Spiggel on dreht sich eremm: „Komm dau emol lei her! Dau bescht die letscht Zeit esu blääch, wu kemmt daat her?“   „Eich eassen su vill greijn Äppel,“ schdoddern eich. „Loss meich emol reijchen! Hauch meich emol unn!“ Eich hauchen meim Papp eant Gesicht. – „Reijchen die greijn Äppel esou!“ brellert en, leet seijn Rasiermeasser op den Desch, mescht de Giatel opp on haat mer dn Henner, eich wääß net wie lang. Eich seijhn noch, wie mei Mamm lääscht de offen Stuwwendier raus aus em Haus rennt op de Stroaß. Deij konnt daat nemme hieren on nemme seihjn, wie eijch se greijt hunn.

Endlich woar de Papp secher meijd, dö hiert en op ze gloppen. „Woufier hescht dau se eweile greit?“ freet e mich, noch ganz außer Oadem. „Weil ich geraacht hunn“, gean eich em zur Antwuert. „Nää, mei Jong, weil de mich beluuh hotscht“, soat en, „nou komm, eweilen greijscht de se, weil de geraacht hoscht!“ on du gääht die Saach nommo vun vier loss.
 
Haut zedööß geef sou e Papp ugezääht weenst „Kindesmißhandlung“. Awer zu oaser Keannerzeit woar mer net esu zimperlich. Mei Papp wor soss  greilich goat zu oas Keannern. Awer henn hott selwer viel geraacht on woscht, wat daat fier en Iwwel eas. On dövunn wollt e meich fearenhallen.

Eijch hott mer denn Daach lö viergehöll: „Sei Lewen raachscht dou net!“ Nur, den Viersatz hot net lang ugehall.
 

 
Meine erste Zigarre
 
Mitten in Merchingen, auf dem Platz, wo heute das neue Caritashaus steht, hatte früher die Wirtschaft Brääz gestanden. Und der Wirtschaft gegenüber, auf der anderen Straßenseite war zu meiner Kinderzeit ein steiler Hang mit ein paar Akazienbäumen. Das war „dn Hiwwel“, am Ende des Hügels lief der Bach. Jetzt ist der Bach nicht mehr zu sehen. Er läuft nämlich tief unter dem Boden durch große Rohren.
 
Der Hiwwel war unser liebster Spielplatz. Da konnten wir an den alten Akazienstümpfen rumkrabbeln, auf dem Hosenboden den Hiwwel runter rutschen, und wir konnten sogar noch etwas finden. Die Dienstmädchen von Brääz hatten nämlich den Kehrdreck und andere Abfälle aus der Wirtschaft einfach den Hiwwel hinunter geworfen. Ab und zu war dann in dem Kehrdreck auch einmal ein Geldstück oder sonst etwas, das Jungen  gebrauchen können.
 
Ich glaube, es war im Sommer 1941 gewesen. Ich war etwa 10 Jahre alt, da war ich gegenüber bei unserm Nachbarn Norbert zum Spielen. Da geht der mit mir hinter ihr Haus, wo seine Mutter uns nicht mehr sehen konnte, und flüstert mir ins Ohr: „Schau mal hier, was ich gestern auf dem Hiwwel gefunden habe“, und holt aus seiner Hose eine halbe Zigarre. Es war eine gute, dicke Zigarre, noch nicht einmal halb geraucht. „Die da rauchen wir beide morgen Nachmittag“, sagt er. „Au, da mache ich mit“, sagte ich, „ich bin ja so gespannt wie die schmeckt.“
 
Den andern Tag! Ich konnte nicht schnell genug mit meinen Schulaufgaben fertig werden. Ich hatte sie schnell dahingestrudelt. Ich hatte sie gerade fertig, da ruft auch schon der Norbert an unserer Haustüre. Schnell die Schulsachen in den Ranzen und hinaus zu ihm!
 
Wir beide sind hinter Norberts Haus über den Kirchenbach in Necklesen ihr Baumfeld und haben uns da in einen Weidenbusch gehockt. Norbert holt die Zigarre und das Streichholz aus dem Hosensack und zündet das Ding an. Er zieht kräftig und bläst den Dampf in die Luft wie die Alten. Dann gibt er mir die Zigarre. Ich mache es ebenso. Dann war er noch mal an der Reihe. So haben wir abwechselnd gezogen und hatten unsere Freude. Über uns ist eine richtige Wolke hochgegangen. Geschmeckt hatte der Dampf uns ja nicht, aber wir hatten uns richtig groß gefühlt, weil wir etwas  konnten wie unser Vater...
 
Wir waren so schön am Dampfen, da sehe ich auf einmal über uns das Dibossen Liss in ihrem Garten. Das steht am Zaun und schaut in unsern Weidenbusch, was denn da brennen soll. Im selben Moment dreht es sich auch schon um und verschwindet.
 
O Jesses, jetzt sind wir beide dran! Wir waren sicher, dass die Liss uns bei unsern Vätern verraten würde und dann gibt es von denen langen Hafer.
 
Mit einem Schlag war uns die Lust am Rauchen vergangen. Der Norbert wirft die Zigarre in den Bach. Wir schauen uns an: „Was nun machen? Wir müssen den Tabakgeruch aus dem Mund bekommen. Damit unsere Väter nichts riechen.“ Wir klettern auf den nächsten Ramburbaum, pflücken von den grünen Äpfeln und beißen kräftig hinein. Wir kauen lange, und schlucken nur den Saft hinunter. Das andere spucken wir aus. So haben wir eine zeitlang dort oben gesessen, bis wir meinten, man würde vom Rauch nichts mehr riechen. Dann sind wir runter vom Baum und nach Hause geschlichen, voller Angst, was jetzt kommen soll.
Der Norbert ist über den Steg in ihren Garten gegangen. Wie es ihm dort ergangen ist, konnte er mir erst am andern Tag erzählen. Ich mußte noch über den Bach springen, ums Dibossen Haus herum und über die Straße, bis ich zu Hause war.
 
Unsere Haustür steht offen, wie immer. Ich will durch den Hausgang in die hinterste Küche schleichen zur Mutter. Aber die Tür zur vordersten Stube steht offen. Vater steht in der Stube vorm Spiegel, das halbe Gesicht voll Schaum, die andere Hälfte schon rasiert, in der rechten Hand das Rasiermesser. Wie ich ängstlich zu ihm rüber schiele, sieht er mich im Spiegel und dreht sich um; „Komm du mal hier her, du bist die letzte Zeit so blaß, wo kommt das her?“  „Ich esse so viele grüne Äpfel“, stottere ich. „Laß mich mal riechen! Hauche mich mal an!“ Ich hauche meinem Vater ins Gesicht. „Riechen die grünen Äpfel so!“, brüllt er, legt sein Rasiermesser auf den Tisch, macht den Gürtel auf und haut mir den Hintern, ich weiß nicht wie lange. Ich sehe noch wie meine Mutter durch die offene Stubentür hinaus aus dem Haus rennt auf die Straße. Die konnte das nicht mehr hören und nicht mehr sehen, wie ich sie bekommen habe.
 
Endlich war Vater sicher müde, da hörte er mit dem Kloppen auf. „Wofür hast du sie jetzt bekommen?“, fragt er mich, noch ganz außer Atem. „Weil ich geraucht habe“, gebe ich ihm zur Antwort. „Nein, mein Junge, weil du mich belogen hast“, sagt er, „jetzt komm, jetzt bekommst du sie, weil du geraucht hast.“ Und da geht die Sache wieder von vorne los.
 
Heutzutage wird  solch ein Vater angezeigt wegen „Kindesmißhandlung“. Aber zu unserer Kinderzeit war man nicht so zimperlich. Mein Vater war sonst schrecklich gut zu uns Kindern. Aber er hatte selbst viel geraucht und wußte, was das für ein Übel ist. Und davon wollte er mich fernhalten.
 
Ich hatte mir an diesem Tag vorgenommen: „Sein Leben rauchst du nicht!“ Nur, der Vorsatz hat nicht lange angehalten.
 


© Theo Seiwert
Redaktion: Frank Becker