Neue „Krachkultur“ erschienen

Krachkultur Nr. 16 / 2014 - Hrsg. v. Martin Brinkmann

Red.

Neue „Krachkultur“ erschienen
 

„KRACHKULTUR ist ein Leuchtfeuer unter den literarischen Zeitschriften.“
Andreas Platthaus, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“

München. Auch mit dem Erscheinen der Ausgabe 16/2014 wird die Münchener Literaturzeitschrift „Krachkultur“ ihrem Anspruch gerecht, künstlerisch Feines und ästhetisch Krudes, literarisch Etabliertes und aufregend Anderes von den Nebenschauplätzen der Literatur in unterhaltsamer Kombination zu präsentieren.
Im übertragenen Sinn benennt das Thema der neuen Ausgabe – „Flüssigdichtstoffe“ – einen wichtigen Ursprung des Schöpferischen: flüssige Inspirationsquellen, denen die Dichtung entspringt. Texte über die so fruchtbare wie furchtbare Verquickung von Alkohol und Literatur sind zu entdecken. Ebenso Werke, in denen kleine Wässerchen, größere Gewässer und ganze Weltmeere thematisiert werden. Nicht zuletzt Stücke, die die Präsenz eines der bedeutendsten „Flüssigdichtstoffe“ überhaupt lyrisch und prosaisch feiern: des Unbewussten, das bekanntlich im Wasser sein Symbol gefunden hat.
Ladys first: Mit Elizabeth Ellen präsentiert die „Krachkultur” einmal mehr die „Queen of White Trash“. Der Schweizer „Tages-Anzeiger“ titelte im letzten Jahr ganz einfach: „Vergesst Charlotte Roche, lest Elizabeth Ellen!“ Ihre Geschichte „Die Zahnfee“ spielt im Schmuddel-Milieu mit den üblichen Protagonisten: Mamas aktueller Freund, Mama selbst und das Töchterchen, das mit in die Kneipe muss zu den „Getreuen“. Schmerzlich-schöner Depri-Sound einer verstörten jungen Seele, die stets vergebens auf die Zahnfee wartet, weil die Erwachsenen jeden Morgen wieder im Alkohol-Koma liegen.
Charles Bukowski (1920 – 1994) ist der Chef aller Loser-Trinker, die sich an der Größe ihrer eigenen Niedergeschlagenheit aufrichten. Er hat diesen dreckig-romantischen Säufer-Sound par excellence erfunden. „Krachkultur“ präsentiert ein überhaupt noch nie veröffentlichtes Gedicht aus dem Jahr 1974, ein erhebendes Poem auf den glorreichen Alleine-Trinker, in Faksimile und Übersetzung. Darauf stoßen wir an: Prost!
Kollege Roni (* 1970) von der Bukowski-Gesellschaft war so nett, einen kleinen Beitrag zu dieser weltexklusiven Erstveröffentlichung beizusteuern. Er erläutert, weshalb das hier veröffentlichte 1974er-Gedicht „A Song to the Glorious Lonely“ gar kein Text über das Trinken ist: „Es ist vielmehr ein Gedicht über die Unzulänglichkeit menschlicher Gesellschaft und deren grundsätzlich defizitäre Anlage.“ Na, wenn das nicht neugierig macht!
Er aber war der eigentliche „King of the Borrachos“ – und Verfasser von „Unter dem Vulkan“, eines der ganz großen Romane des vergangenen Jahrhunderts: Malcolm Lowry (1909 – 1957). Die Geschichte „An Bord der West Hardaway“, die Lowry später zu einem Kapitel seines Romans „Ultramarin“ umarbeitete, erscheint hier erstmals auf Deutsch. Thema der Geschichte ist eine existenzielle Daseinsfurcht. Da kann auch das Matrosenleben kaum Linderung verschaffen. Für die quälende Sehnsucht nach Ich-Vereinheitlichung findet bereits dieser Text von 1933 poetische Ausdrücke, die den späteren Meister mehr als erahnen lassen. Klassische Moderne at its best!
Jan Gabrial (1911 – 2001), die erste Frau von Malcolm Lowry, erinnert sich an die gemeinsame Zeit mit dem Dichter und Trinker: „Er war eine schillernde Persönlichkeit, dieser Malcolm Lowry. Er erleuchtete viele Leben, verfasste ein Meisterwerk und starb viel zu jung. Wir teilten ein paar Träume und ein paar Jahre und unsere Jugend. Dies waren die Geschenke, die wir einander gaben.“ Wer in ihren mexikanischen Erinnerungen an das Jahr 1936 nicht bereits die Figurenkonstellation aus „Unter dem Vulkan“ wieder erkennt, hat einen der aufregendsten Romane der Weltliteratur (noch) nicht gelesen.
Jens Bjørneboe (1920 – 1976), der große Anarchist der norwegischen Nachkriegsliteratur, das Vorbild von Starautor Ingvar Ambjørnsen und aller rebellischen Jugend, hält in seinem Langgedicht „Leb wohl, Bruder Alkohol“ (aus dem „Dagbladet“ vom 27. Dezember 1975), hier erstmals übersetzt von Gabriele Haefs, eine grandiose Abschiedsrede auf den treusten Lebensbegleiter – die zumindest für den Moment wohl ernst gemeint war …
Einen der größten Trinker-Romane aller Zeiten und Länder hat aber sicherlich Hans Fallada (1893 – 1947) geschrieben: „Der Trinker“ (1950), zuletzt verfilmt mit Harald Juhnke in seiner vielleicht schönsten, vor allem wahrhaftigsten Rolle. Verfasst wurde dieses schonungslose Dokument über König Alkohol und sein schlimmes Regime während eines Aufenthalts in der Landeshaftanstalt Neustrelitz, wo Fallada wegen versuchten Mordes an seiner Frau einsaß und erst mal gründlich ausnüchtern sollte. Exakt an jenem Tag, an dem er das Trinkermanuskript abschloss, schrieb er einen anrührenden Brief an seine elfjährige Tochter Mücke, der hier erstmals der literarischen Öffentlichkeit präsentiert wird. Die Dichterin und Fallada-Expertin Sabine Lange erklärt in einem ebenso sachkundigen wie eindringlichen Essay die Umstände, unter denen dieser Brief und das Trinkermanuskript entstanden sind.
Christoph Brumme (* 1962) erzählt in seinem Roman-Auszug „Bimbo in Bautzen“ von den Entzugserscheinungen eines Schwerstalkoholikers, der im DDR-Knast auf eine vormenschliche Stufe degradiert wird. Mit seinem poetologischen Essay „Zum Kollektivgeschmack heute“, in dem er die Kriterien für gute Literatur darlegt, liest Brumme den ästhetischen Vorlieben der Wessis und Nachwendedeutschen die Leviten.
Mit seinen „Drei Emblemen zur See“ tritt Open-Mike-Sieger Joseph Felix Ernst (* 1989) in die großen Fußstapfen von Meister Thomas Kling: hoch artifizielle lyrische Gebilde, die das Seeleben mehrerer Jahrhunderte beleuchten. Mit Bildteil!
Der Autor und Entertainer Sven Amtsberg (* 1972) hat ganz neue paranormale Phänomene aufgespürt. Eines davon präsentiert er in „Mutter und das Meer“ – ein ebenso ironischer wie poetischer Lovecraft-Horror!
Andreas Thamm (* 1990), der in Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studiert, erprobt sich in „Der Brunnen“ in einem famosen Sekundenstil, der an Peter Weiss’ unwiderstehliches Formexperiment „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ erinnert. Man darf sich auf die Rückkehr der Suhrkamp-Kultur freuen!
Christoph Jehlicka (* 1983), ein weiteres junges Talent aus der Hildesheimer Schreibschule (sein Mentor ist kein geringerer als Hanns-Josef Ortheil), erzählt in „Begegnung im Bahnhofstunnel“ mit ironischer Freude und formaler Experimentierlust von einer sinnlosen gewalttätigen Auseinandersetzung unter Alkoholeinfluss.
Bei Karen Köhler (* 1974) wirft die Hauptfigur einen Blick in die Alkoholiker-Tristesse einer Hartz-IV-Burg sowie in die eigene, von Ekel vor dem eigenen Vater durchseuchte Psyche. Ein vielversprechendes Talent!
Chris Trautmann (* 1964) berichtet von der großen Sehnsucht kleiner Jungs, in wackligen Konstruktionen üble Kaltwasser-Gräben zu überqueren. In seinen lyrischen Arbeiten präsentiert der Autor außerdem das norddeutsche Flachland, wie es sich dem von Korn benebelten Gehirn durch die Netzgardine vom Küchenfenster aus zeigt.
Die neuen Gedichte von Andreas von Flotow (* 1981) betreiben wieder mal eine ausgesuchte Analyse der Empfindungen. Lyrische Texte, die den Auf- und Abschwüngen der Seele existenzielles Gewicht verleihen: „Und ich träumte von einer Verfolgungsjagd – mit einem Traum-Ich, das durch hüfthohes Wasser flieht. [/] Als ich erwachte, war mein Bett vom Meer umspült, ich war müde und konnte mich [/] kaum bewegen, und auf meinem Körper lagen dreißig spiegelnde Balken.“
Die irische Lyrikerin Ailbhe Ní Ghearbhuigh (* 1984) ist eine der wichtigsten Stimmen der jungen Generation von Lyrikerinnen in gälischer Sprache. Ihre Gedichte kommen angenehm unaufgeregt daher. Wie sie es trotzdem schaffen, gleichzeitig derart aufregend nach Rauch und Porter zu schmecken, bleibt ihr Geheimnis.
Ersi Sotiropoulos (* 1953), eine der renommiertesten griechischen Schriftstellerinnen der Gegenwart und potenzielle Nobelpreiskandidatin, erzählt in „Die Möse in der Hitze“ die alte Geschichte vom Sommer-Kerker, in dem die einsame Depressive zu seltsamen Methoden griffe, wäre da nicht der alte Freund, der simplen Rat weiß: „Mösen füttert man mit Schwänzen und nicht mit Eis.“
Top-Journalist Wolf Reiser (* 1955), ein Pendler zwischen Schwabinger Bohème und Peloponnes, der noch mit Jörg Fauser und Carl Weissner erschöpfende Trinkkuren absolvierte, porträtiert in seinem Klasse-Essay „Dichter am Meer“ das von Regressionssucht getriebene Verhältnis der Dichter (von Shelley bis Cravan) zum „halunkengrünen“ Meer – und wird dabei den Verdacht nicht los, dass die grandiose Sauferei, die nun mal wahrhaft gute Schriftsteller auszeichnet, als eine Vorbereitung für den finalen Tiefgang zu verstehen ist.
Und das Cover stammt einmal mehr von dem bildenden Künstler Yanko Tsvetkov (* 1976), der mit seinem „Atlas der Vorurteile“-Projekt weltweit für Aufsehen sorgt.
Krachkultur Nr. 16 / 2014 - Hrsg. v. Martin Brinkmann
ISSN 0947-0697 / ISBN 978-3-931924-11-9
192 Seiten / 12 EUR

Im Netz: www.krachkultur.de