Die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts

Der 1. Weltkrieg aus dem Blickwinkel eines Armierungssoldaten

von Jürgen Koller

© Margot Koller
Ein junger Mann und sein Großvater

Der 1. Weltkrieg aus dem Blickwinkel eines Armierungssoldaten
von Jürgen Koller
 
Der hundertste Jahrestag, und plötzlich ist die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts wieder im Gedächtnis der Europäer. Über den 1. Weltkrieg sind viele laufende Regalmeter Sachliteratur aus den verschiedensten geopolitischen Blickwinkeln, aber auch eine Fülle literarischer und dramatischer Werke von ehemaligen Kriegsteilnehmern publiziert worden. Selbst in der bildenden Kunst fand das große Sterben zwischen 1914 und 1918 seinen Niederschlag. Und das nicht nur bei den bekannten Namen des Expressionismus wie Ernst L. Kirchner, Otto Dix, Karl Schmidt-Rottluff, Ludwig Meidner oder Willy Jaeckel, sondern auch bei Künstlern der 2. Reihe.
 
In der Rückschau auf ein vor einem halben Jahrhundert von beiderseitiger Zuneigung getragenem Gespräch zwischen dem Enkel (dem Verfasser dieser Zeilen), und seinem Großvater kann davon ausgegangen werden, daß der junge Mann damals kaum Kenntnis über jene Literaten besaß, die den 1. Weltkrieg aus eigenem Erleben thematisch aufgearbeitet hatten. Dieser europäische Krieg spielte weder in der Schule, noch im gesellschaftlichen Leben Ende der fünfziger Jahre, Anfang der sechziger Jahre eine bestimmende Rolle, waren doch die Menschenverluste, die Trümmer und all die Entbehrungen des für Deutschland katastrophaleren Folgekrieges von 1939 noch allgegenwärtig. In den Abiturklassen Ost-Deutschlands war allerdings Arnold Zweigs „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ Lehr- und Prüfungsstoff. Der Roman erzählt die Geschichte eines russischen Kriegsgefangenen an der Ostfront im 1. Weltkrieg, der in die Mühlen der Kommandozentrale von „Oberost“ gerät und am Ende als angeblicher Spion erschossen wird. Heute gehören Ludwig Renns „Krieg“ neben Henri Barbusses „Das Feuer“ und Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, ergänzt von Georg Kaisers Schauspiel „Gas“, längst zur Haus-Bibliothek des Autors. Renn, eigentlich Arnold Friedrich Vieth von Golßenau war sächsischer Offizier und nannte sich später nach seinem Romanhelden. Und Barbusse hatte sich mit vierzig Jahren noch freiwillig zur französischen Infanterie an die Front gemeldet. Diese Bücher würdigten die soldatische Tapferkeit genauso wie die unermeßliche Opferbereitschaft, die Leidensfähigkeit und den Überlebenswillen der einfachen Soldaten beider Seiten der Front, stellten aber auch Fragen nach dem letztendlichen Sinn dieses unbeschreibbaren Gemetzels. Ganz im Gegenteil zu Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“, wo der Autor als junger Leutnant auf der „Suche nach der Droge namens Krieg“ war. Als Sturmtruppführer und später als Kompaniechef sah er sich als „Teufelskerl“, der weiß, wie man „Hunderte in den Tod“ führt. Dafür sollte er nach seiner 7. Verwundung kurz vor Toresschluß im September 1918 noch den höchsten kaiserlichen Orden „Pour le Mérite“ bekommen.
 
Ein solch soldatischer „Teufelskerl“ war mein Großvater Oskar S. gewiß nicht. Es hatte mich auch nie interessiert, was der Großvater im Krieg gemacht hatte. Bis ich eines Tages in den frühen 60er Jahren ein Foto von ihm in die Hand bekam, wo er am Revers eine Ordensspange trug. Plötzlich war mein Interesse geweckt, was es mit der Spange am großväterlichen Jackett auf sich hatte. Zu dieser Zeit war der alte Herr, den ich verehrte, schon sehr krank - eigentlich kannte ich ihn nur krank an Lunge, Magen und Gedärm. So kam es, daß er mich zu sich einlud. Er spürte wohl, daß ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Der Großvater hatte sich akribisch vorbereitet – es lagen Fotos aus der Zeit, Urkunden und seine Orden bereit. Was ich in diesen wenigen Stunden über seine Jahre als Sanitäts-Soldat an der Westfront von 1914 bis 1918 aus längst vergangenen Jahrzehnten erfuhr, hat mich nie mehr losgelassen. Bei Remarque heißt es, er wolle „über eine Generation (...) berichten, die vom Krieg zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“ Auch der Großvater entkam, krank an Körper und Seele, beruflich ohne Zukunft...
 

© Margot Koller

Im Frühjahr 1914 hatte er im Alter von vierundzwanzig Jahren gerade erst seinen Frisörsalon in der Stadt Siegmar-Schönau bei Chemnitz eröffnet. Lässig posiert er auf einem Foto mit Weste und Uhrkette vor seinem Salon. Gleich bei Kriegsbeginn wurde er eingezogen und kam als Nicht-Gedienter in ein sächsisches Armierungsbataillon. Von Statur nicht der Kräftigste, brauchte er als Armierungssoldat nicht zu schanzen, mußte keine Gräben oder Unterstände ausheben. Im Schnelldurchgang wurde er zum „Krankenträger“, sprich Sanitäter, ausgebildet. Als waffenloser Sanitätssoldat mit Rotkreuzbinde am Arm hatte er Verwundete aus den Drahtverhauen und Granattrichtern zwischen den Linien zu bergen. Die Schreie und das Wimmern der verwundeten Kameraden, die Stunden, gar Tage ausharren mußten, hätten ihn noch Jahrzehnte des Nachts im Traum verfolgt. Oft kam jede Hilfe in den Feuerpausen zu spät, die Verwundeten waren längst verblutet oder, was oft vorkam, verdurstet. Als Sanitäter unmittelbar an der Front war Großvater natürlich dem gegnerischen Feuer genauso ausgesetzt wie die Grabenkämpfer. Und es gehörte viel Unerschrockenheit und soldatischer Mut dazu, sich an die Verwundeten heranzuarbeiten, denn besonders die französischen Kolonialsoldaten aus Senegal hätten die Neutralität des Roten Kreuzes oftmals nicht respektiert. Von den furchtbaren Schlächtereien bei Nahkämpfen, wenn die Männer wie im Rausch mit gefälltem Bajonett, mit Messern oder Spaten aufeinander losgegangen sind, erzählte er kaum etwas. Nur, daß nach solchen Sturmangriffen oftmals keine Sanitäter mehr gebraucht wurden. Auf die Frage, ob er auch verwundete Gegner notversorgt hätte, meinte der Großvater, daß dies durchaus üblich gewesen sei, denn ein waffenloser Gegner sei kein Feind mehr gewesen. Auch hätte er keine Mißhandlungen von Gefangenen beobachtet, obwohl er das nicht ausschließen könne. Großvater Oskar hat die Schlachten an der Somme und an der Marne ohne Verwundungen überlebt. Aber die ewigen Strapazen, das unfaßbare Elend um ihn herum, der stetig wachsende Mangel an Morphium und Verbandsmaterial, der Dreck, der Schlamm, die Nässe und Kälte, die zerfallenden Uniformen, die immer schlechter werdende Essensversorgung, das knappe Trinkwasser und die Läuse mit der latenten Typhusgefahr hätten ihn mehrfach an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Irgendwann ist er in einen Gasangriff der Franzosen geraten. Noch ehe er seine Gasmaske aufsetzen konnte, war seine Lunge verätzt. Ein Leben lang sollte er an dieser Gasverletzung leiden.
 
Am 17. Oktober 1917 bekam Großvater Oskar für Kriegsdienste im Namen des Kaisers das Eiserne Kreuz II. Klasse und vom sächsischen König

© Margot Koller
die Friedrich August- Medaille in Bronze verliehen. Voller Stolz ließ er sich, die Hände auf die Schultern seiner Kameraden gelegt, mit dem Band des EK II am zweiten Knopf des Soldatenrocks, ablichten. Und dann kam das Kriegsende, das Armierungsbataillon rückte nach dem 9. November 1918 geordnet in seine Kaserne in Sachsen zurück. Großvater Oskar wurde demobilisiert... und stand vor dem Nichts. Der Frisörsalon war längst geschlossen. Krank an Leib und Seele, konnte er seinen Frisörberuf nicht mehr ausüben. Er suchte sich in Siegmar-Schönau eine Arbeit als Metallpolierer in einer Firma, die „Ringläufer“ für Spinn- und Zwirnmaschinen herstellte.
Mein Großvater bekannte am Schluß unseres langen, vertraulichen Gesprächs, daß er die Ordensspange an hohen Feiertagen stets angeheftet habe, weil er sich mit den Zuständen in der Weimarer Republik nicht hätte abfinden können. Weder sei er ein „Stahlhelm“-Bündler noch ein Monarchist gewesen, auch spreche er nicht von der „Dolchstoßlegende“, aber er müsse der Lesart „im Felde unbesiegt“ beipflichten. Der Versailler Vertrag, der den Deutschen die alleinige Schuld an dieser „Urkatastrophe“ Europas zusprach, war für ihn völlig inakzeptabel.
Es sollte unser letztes Gespräch gewesen sein, wenige Wochen später starb er. Nicht in allen Punkten konnten wir uns damals einigen, aber daß er die Erinnerung an seinen waffenlosen, tapferen Dienst für seine Kameraden an der Westfront hochhielt, kann ich heute, wo ich längst selbst ein älterer Mann bin, nachvollziehen.
Was für Großvater Oskar S. einst Kriegshandwerk war, nämlich Verletzten zu helfen, hatte er dann in den zwanziger Jahren beim Arbeiter-Samariter-Bund im Ehrenamt weitergeführt.
 
Redaktion: Frank Becker