Ein Ästhet war man, ein reiner Genießer

Als man noch las, ohne zu verstehen

von Franz Hessel

Ein Ästhet war man, ein reiner Genießer
 
Wie schön war die Zeit, als man noch las, ohne zu verstehen!
 
Da hat man zum Beispiel zu Weihnachten den „Tell“ geschenkt bekommen, Schillers „Wilhelm Tell“. Man war erst acht Jahre alt. In der Schule wird dieser „Tell“ erst in zwei Jahren gelesen werden. Neugierig hat man sich den „Tell“ gewünscht, des Namens wegen. Am Heiligen Abend hat das Kind das kleine blaue Buch eigentlich nur gestreichelt und bisweilen, Marzipan kostend, hineingeschaut. Nun aber ist Feiertagsmorgen. Das Kind ist ganz allein in der guten Stube, in welcher der Weihnachtsbaum steht. Es streift an der Seite des Tisches, wo seine Geschenke liegen, die für die Nacht übergeschlagene Decke zurück, nimmt das Buch heraus, setzt sich auf den Schaukelstuhl. Aber das ist noch nicht der richtige Leseplatz. Es wechselt hinüber zum Sessel, vor dem die Fußbank ist. Es kniet auf die Fußbank, legt das Buch auf das blaue Eiderdaunenkissen, das sich in den Sessel schmiegt, schlägt auf, liest.
Erst kommen die Verse vom Fischerknaben, vom Hirten und vom Alpenjäger. Die liest es noch nicht so genau. Die schaukeln schnell von Zeile zu Zeile und gehen sanft ein. Aber dann kommt Ruodi, der Fischer, aus der Hütte und beginnt: „Mach hurtig, Jenni. Zieh die Naue ein.“ Naue! Wie geheimnisvoll.
„Der graue Talvogt kommt, dumpf brüllt der Firn.“ Das sind Sturmgeister. Sie brausen daher. Und was der Fischer ankündigt, bestätigt der Hirt:
„’s kommt Regen, Fährmann. Meine Schafe fressen mit Begierde Gras, und Wächter scharrt die Erde. „Was tut da die Erde? Sie scharrt Wächter? Scharrt, weil sie sich fürchtet vor dem Sturm, vor all den bösen Wesen, dem Talvogt, dem Firn, dem Mythenstein mit seiner kriegerischen Haube. Wachtposten empor. Wächter scharrt die Erde!
Später, wenn man dann den „Tell“ in der Schule „hat“, kommt heraus: Die Naue ist ein Boot, der Mythenstein ist ein Berg. Und nicht die Erde scharrt Wächter, sondern der Hund, der Wächter heißt, scharrt die Erde. Ist auch ganz schön, aber eigentlich war as noch schöner, als man noch nicht verstand … als sie selbst, die Göttin, die Erde, scharrte - mitten im Weihnachtszimmer, durch dessen Tannen- und Marzipanduft ferner Sturm brauste, als noch die Zeit wer, da man Mythen schuf rings um das schmal behütete Kinderreich, die Zeit, da in dem schönen Lied von der „Brigg dort auf den Wellen“ zuletzt das verlorene Boot des Retters von einem Dämon ans Land getrieben wird. Kieloben heißt der Dämon! „Kieloben treibt das Boot zu Lande, und sicher fährt die Brigg vorbei.“ Ja, da hockt man, von Geistern umgeben. Sie waren unheimlich, aber anhaben konnten sie einem doch nichts. Ein Ästhet war man, ein reiner Genießer, hatte eine angenehme Art mit Tod und Teufel zu verkehren … Wie schön wer die Zeit, als man noch las, ohne zu verstehen!
 
 
Franz Hessel