Die Kuchenzurechtweisung

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
 
Die Kuchenzurechtweisung
 
Oft erlebt man in einer Konditorei Dinge, die nicht so wichtig sind, aber doch viel über Menschen und ihre Leidenschaften aussagen. Ich war kürzlich in einer Bäckerei, die besonders stolz auf ihr eigenes Kuchen- und Tortensortiment war. Es gab dort zum Beispiel eine Wildfruchtcremetorte, deren Stückchen in viereckiger und runder Form präsentiert wurden. Kleine Inseln der Vollkommenheit. Steine von Herzen, die Liebende fallen ließen. Während vorne in der Auslage die runden Tortenstückchen thronten, posierten dahinter die gleichen Törtchen, nur viereckig, für den erregten Freier. Ich war überrascht. Hatte hier der Bäckerlehrspruch: „Das Auge ißt auch mit“ zu anderen Ergebnissen geführt? „Warum haben sie denn die Torte einmal in einer viereckigen Ausführung und dann noch einmal rund gebacken?“, fragte ich nach. Die junge Verkäuferin überlegte nicht einen Augenblick, um mir ihre gezuckerte Weisheit um die Ohren zu knallen. Ich weiß noch, wie selbstbewusst sie dabei lächelte, um mir deutlich zu machen, wie leicht ich auch selbst auf diese Antwort hätte kommen können. „Manche unserer Kunden essen diese Torte gerne in einer viereckigen Ausführung, andere bevorzugen die runde Verwirklichung“, flüsterte sie und der Himmel ging auf und Millionen von Engeln sangen ein stolzes „Halleluja“. Ich sang mit.
 
 

© 2013 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker