Das Wunder Frau

Auszug aus dem Roman „Nackte Hunde“

von Karl Otto Mühl

Das Wunder Frau
 
Auszug aus dem Roman „Nackte Hunde“
 
Gustav befindet sich 1945 mit Hunderten von deutschen Kriegsgefangenen auf einem Truppentransporter, der nach England fährt
 
Nicht etwa, daß er nicht umgekommen ist, wundert Gustav, nein, es wundert ihn, daß es ihn, Gustav, noch gibt, ihn, der vor ein paar Jahren in der Lukaskirche konfirmiert wurde, der kleine Kerl im schwarzen Anzug, der nach dem feierlichen Akt vor dem donnernden, luther-ähnlichen Pastor bewegten Herzens in die Stadt marschiert war.. Mit der Schülermütze auf dem Kopf. Der Gustav, der vor einem Jahr noch neben der duftig neben ihm daherschwebenden Rosa über das Pflaster des Laurentiusplatzes gegangen ist, der festgegründet in einer kleinen Dachkammer in der Nordstadt war, der soll er sein? Da hatte er vor dem mit brauner Fußbodenfarbe gestrichenen Schreibtisch gesessen, allein, und doch tröstlich die Eltern nebenan, er blickte auf die Dachziegel der Nordstraße – aber nun sitzt auf einer festgeschraubten Bank in einem großen Mannschaftsraum unter Deck. Von der Decke baumeln die Hängematten. Tagsüber spielt er mit den Kameraden stundenlang Schach.
 
Täglich dürfen die Kriegsgefangenen für eine Stunde an Deck. Nie hatte sich Gustav ein Schiff so groß und mächtig vorgestellt, nie hatte er geglaubt, daß er mit so einem Schiff übers Meer fahren würde.
Das Meer gleißt, der Himmel brennt, Die Welt ist unermeßlich. Gustav ist klein und bedeutungslos und kann überhaupt nichts machen, aber das macht ihm nicht viel aus. Hier spricht niemand mit ihm. Niemand scheint ihn näher zu kennen. Fast ist es nur noch der Leberfleck auf dem Schulterblatt, auf den er sich verlassen kann.
 
Natürlich ist es keine glückliche Zeit. Das Glück wird erst nach dem Krieg beginnen. Hoffentlich geht der Krieg für Deutschland verloren, denkt Gustav, und andere denken es auch. Die meisten glauben noch an den Sieg. Aber darüber wird nicht gesprochen.
Gustav wird heimkommen. Er denkt nicht darüber nach, was für eine Heimkehr es für Ausgestoßene wie ihn geben wird. Ob es nach Kriegsende noch Nazis geben wird? Gustav gewinnt bei der Zeitungslektüre am Schwarzen Brett den Eindruck, daß es ein großes Strafgericht für sie geben wird.
 
Es kommt ein großes Ereignis. Für die mitfahrenden englischen Soldaten und selbstverständlich für die Schiffsbesatzung wird es einen Truppenbetreuungsabend geben, und die Gefangenen dürfen sogar teilnehmen. Mehr noch, falls es Begabungen unter ihnen gibt, wird ihnen gesagt, dürfen die auch etwas zum Programm beitragen.
Immer wieder verstärkt sich in Gustav der Eindruck, daß es bei den Alliierten doch weitaus mehr Menschlichkeit und Freiheit gibt, als er sie bisher kennengelernt hat.
Übrigens zeigt sich, daß die Deutschen Musiker und Sänger unter sich haben, die in den zwei Tagen vor dem großen Galaabend, der im Speisesaal stattfinden soll, ein Programm zusammenstellen und fleißig üben.
Und plötzlich muß Gustav sich doch nicht mehr lediglich auf seinen Leberfleck verlassen, um sich wiederzuerkennen. Jemand hat gewußt und dem Dolmetscher gesagt, daß Gustav wohl Journalist werden will und ein bißchen schreiben kann.
 
Gustav wendet zuerst bescheiden ein, daß er ja gerade erst anfangen will, zu schreiben. Die deutschen Musiker kommen zu ihm – alles geschieht im wimmelnden Mannschaftsraum unter Deck, mit Funzeln an der Decke und Hängematten kreuz und quer – und sie fragen ihn, ob er einen Text zu „Auf den Flügeln bunter Träume“, der ihnen fehlt, schreiben kann. Vielleicht kennen sie auch noch einige Zeilen einer anderen Übersetzung, Gustav vergißt es schnell. Er wird gebraucht, er ist wichtig, und darum geht es.
 
Gustav hat seinen Platz in der Gesellschaft gefunden. Er schreibt
 
„Auf den Flügeln
bunter Träume
klingt mein Lied durch die Nacht
vom Broadway bis zu den Sternen.
Seine Worte
sind nur Schäume,
doch wer es hört,
der spürt die tiefe Sehnsucht in ihm.
 
Ich hab´s lang nicht zu sagen gewagt
wie heiß mein Herz dir schlägt;
doch heute ist gekommen der Tag,
der uns zum Himmel trägt“.
 
Wunderbar, sagt der Pianist, wunderbar. Genau das brauchen wir. Auch der schwarzhaarige Sänger, ein Kamerad mit dunklem Haar und weichem Gesicht, nickt zufrieden.
 
Eine Stunde nach dem Abendessen dürfen die deutschen Gefangenen wieder in den Speisesaal. Er sitzt mit seinen Kameraden Manfred und Kurt zusammen an einem dieser Tische, an denen vor dem Krieg feine Leute in feinen Kleidern gesessen haben.
Es ist, als ob Gustav das fühlte. Er fühlt – und den anderen geht es wohl ebenso -, daß er etwas Besonderes ist, Fallschirmjäger, Liederdichter, Weltreisender, Welterfahrener, und nun auf einem Luxusdampfer, menschlich behandelt von den Engländern, dank eines Augenblicks in der Geschichte, in dem wenigstens die Angelsachen ihre Gefangenen menschlich behandeln.
Noch weiß nicht jeder, daß die Deutschen wie Tiere mit Gefangenen umgehen. Bei den angelsächsischen Gefangenen mögen sie mühsam den Rotes-Kreuz-Anschein aufrechterhalten, aber die mörderische Brutalität wird im Verlauf des Krieges immer deutlicher durch die Risse des Tausendjährigen Reiches scheinen, und Gustav wird es nach und nach aus den Zeitungen erfahren.
 
Das Programm beginnt. Eine Band der Engländer spielt auf der grell erleuchteten Bühne. Dann kommen einige der deutschen Musiker aus dem Gefangenentransport auf die Bühne und spielen Gustavs Lied. Gustav wird wild vor Stolz, als es der deutsche Tenor singt. Trotzdem erinnert er sich später kaum noch daran, auch nicht an das folgende Programm, sondern nur an das, was jetzt geschieht.
Eine amerikanische Sängerin tritt auf. Sie gehört zweifellos zur Truppenbetreuung. Begleitet von der englischen Band singt sie „Smoke gets in your eyes“ und andere Songs.
Sie hat ein schönes, ovales Gesicht, dunkles Kräuselhaar, volle Lippen. Ihre Stimme erfüllt den Saal. Sie verzaubert Hunderte von jungen Männern. Sie ist für Gustav von nie gekannter Süßigkeit. Die Stimme schenkt Gustav Zärtlichkeit, Geborgenheit, Heimat, Sicherheit, ewiges Aufgehobensein in Liebe. Er spürt es, eine Frau ist mehr als ein Körper mit Gliedern, Haaren, Gesäßmuskeln, Nacken, haarigen Achseln, eine von Frau ist von umfassender Lieblichkeit, sie ist der Himmel. Gustav weiß es jetzt. Sie ist die Erlösung, sie beschenkt den Mann, den sie annimmt. So fühlt es Gustav.
 
Danach tapsen die Gefangenen durch die engen Gänge hinunter zu ihrem Quartier, während an den Bullaugen die Wellen tanzten. Was für eine gewaltige Welt, was für ein gewaltiges Leben.
 
 
Karl Otto Mühl

6.11.2013 für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker
 Das Buch ist im NordPark Verlag erschienen: www.nordpark-verlag.de/