Schiffbruch

Sten Nadolny – „Weitlings Sommerfrische“

von Robert Sernatini

Schiffbruch
 
Sten Nadolny unternimmt den Versuch einer Annäherung an sich selbst
 
Ein Mann, voller Erinnerungen alt geworden, macht im vorgerückten Alter die gleiche Dummheit wie als junger Bursche: Wilhelm Weitling, in Ehren ergrauter und pensionierter Richter, segelt bei unsicherer Wetterlage mit einer Plätte hinaus auf den Chiemsee, den See seiner Jugend, seines Lebens, gerät prompt in einen Sturm und erleidet wie vor 50 Jahren Schiffbruch mit tiefer Bewußtlosigkeit.

Als er aus seiner Ohnmacht erwacht – oder dem was es zu sein schien – muß er feststellen, daß er im wahrsten Wortsinn über den Dingen steht. Körperlos und Sprach-los schwebt er durch seine eigene Jugend, zurückgeworfen auf das Jahr seines damaligen Segelunfalls Ende der 50er Jahre. Ein déja vu – wer hätte nicht schon von einer solchen Grenzerfahrung geträumt? Auf Schritt und Tritt begleitet Weitling nun den jungen Willy, also sich selbst durch Monate seiner Entwicklung, durch die Schule, unerfüllte Liebe, erhaltene Geschenke und gelesene Literaturen, sportliche Selbsterziehung, Familienkonflikte. Die Fehler kennend, die er machen wird – und doch mit der steten Hoffnung, es könne sich doch dies und das ein wenig wenden - muß er erkennen, daß das nicht geht. Was geschehen ist, ist geschehen und Eingreifen ist nicht möglich. Sten Nadolny greift zutiefst nachvollziehbar den Traum vieler älterer Menschen auf, noch einmal die eigene Jugend erleben zu können, jetzt aber mit dem Verstand und der Erfahrung von heute. So weit, so gut.
 
Dann jedoch beginnt er damit, die Dimensionen von Zeit und Raum sich zerfasern, verschwimmen zu lassen, Weitlings Geist entdeckt die Fähigkeit, Kontakt aufzunehmen, nicht zu seinem jungen Selbst, sondern zu Alten wie dem Großvater, die dem Tod näher sind als dem Leben und zu Betrunkenen. Nimmt man dieses paranormale Intermezzo, aus dem er den Titel des Romans zieht, noch als Spielerei hin, so wird die Wendung des achten Kapitels zur Erfahrung einer von Nadolny aus dem Hut gezauberten weiteren Identität seines Protagonisten zum allzu gewagten Spiel mit der Geduld des Lesers. Sich deutlich seiner ursprünglichen Identität als pensionierter Richter erinnernd, wird Weitling beim Erwachen aus der Ohnmacht in ein völlig anders verlaufenes Leben geworfen, in dem er Schriftsteller ist, älter, mit seiner auch in der ersten Identität vorhandenen Partnerin Astrid verheiratet und Vater/Großvater. Nichts gilt mehr. In einer Situation, an der jeder Mensch zerbrechen würde, läßt Nadolny seinen Weitling nun die neue Biographie lernen, um in dieser Welt, in der er ja demnach schon immer gewesen ist, zurechtzukommen.

Sprachlich auf gewohnter Höhe, erzählerisch flüssig und durchaus zu genießen, wird mit dieser gedrechselten Auflösung aber der ganze Roman zur Farce. Die Reflexion des eigenen Lebens gerät zur Spökenkiekerei über Existenz, Paralleluniversen, Gott, Zeit und Raum. Nadolny, der mit dem Roman „Weitlings Sommerfrische“ im Grunde nichts anderes tut, als mit dieser Zeitreise auf verschobenen Ebenen seine eigene Biographie und ihre Klippen, sowie die Geschichte seiner Eltern aufzuarbeiten, hat weit besseres geschrieben. Der zweimalige Schiffbruch auf dem Chiemsee darf als Menetekel gelten.
 
Sten Nadolny – „Weitlings Sommerfrische“
© 2012 Piper Verlag, 220 Seiten, geb. m. Lesebändchen u. Schutzumschlag
16,99 €
 
Weitere Informationen: www.piper.de